29.7.15
Ich habe so ein Glück: Eine Wohnung, fließend warmes und
kaltes Wasser, was auch noch trinkbar ist, im Winter eine Heizung. Ich habe
freundliche Nachbarn und sehr nette Vermieter. Ich konnte die Schule und die
Universität besuchen. Ich arbeite in einem Beruf, der mir Freude und
Bereicherung ist. Meine Kinder waren im Kinderladen und haben einen
Schulabschluss. Sie konnten frei und ungezwungen aufwachsen und ihren ganz
eigenen Lebensweg wählen. Wenn ich in meinem Leben mal nicht arbeiten konnte,
dann hat mir die Gemeinschaft über diese Zeit den Lebensunterhalt garantiert.
Ich habe weder Krieg noch unmäßige Verwüstungen hier erlebt. Meine Reisen
konnte und kann ich frei und spontan organisieren. Ich kann meine Meinung frei
äußern, ohne um mein Leben fürchten zu müssen. Wenn ich sparsam bin, kann ich
mir jeden Tag Essen und manchen Schnickschnack ab und zu leisten. Ich kann entscheiden, wie ich mich ernähren
will. Ich habe einen Internet Anschluss und kann 24 Stunden mit Menschen aus
der ganzen Welt kommunizieren und mich über alles ausführlich informieren.
Meine Enkelin lebt bei mir und ich muss keine Angst haben, dass ihr ein
Schrecken passiert, wenn sie mit ihrer Mutter das Haus verlässt. Ich kann frei bestimmen,
in welcher Form ich meine Beziehungen und Partnerschaften gestalte. Ich wähle
meine Kleidung und meinen Stil selbst. Was heute Morgen Recht und Gesetz war,
wird es auch heute Abend noch sein. Wenn
ich krank bin oder einen Unfall habe, dann bekomme ich ohne Schwierigkeiten
eine ärztliche Betreuung. Ich kann wählen oder nicht wählen gehen. Ich kann
mich gegen Ungerechtigkeiten wehren und aktiv einbringen. Ich kann auch vorm
Fernseher hocken bleiben. Aus allem entstehen mir kein Schaden und keine Verfolgung.
Jeder, der hier lebt, kann diese
Aufzählung sicher mit vielen eigenen Beispielen füllen.
Dafür bin ich dankbar.
Es ist der Zufall meines Geburtsortes, der mir all dies
ermöglicht. Doch nicht nur das. Den Preis für all diese Selbstverständlichkeiten
zahlen in einer globalisierten Welt tausend und abertausende Menschen, denen es
dreckig geht, damit es mir so gut gehen kann. Und weil dies so ist, bin ich froh,
wenn ich von meinem Glück etwas abgeben und teilen kann und es dadurch noch
vermehren darf. Ich kann diese Welt nicht alleine ändern, aber ich kann sie
ganz konkret in meinem persönlichen Umfeld gemeinsam mit anderen Menschen
freundlicher und liebevoller gestalten für all diejenigen, die das Glück meiner
zufälligen Geburt nicht hatten, und die nun mit all ihren Träumen, Sehnsüchten
und Hoffnungen bei uns angekommen sind.
Das kannst du auch.
Es ist ganz einfach.
27.7.15
„Sie sind ein Naivchen, Frau Müller.“
„Ja ich weiß. Das ist sehr freundlich, manche benutzen in
diesen Tage viel schärfer Worte um mich zu beschreiben.“
„Sie können die Welt und die Menschen auf ihr nicht
ändern.“
„Ja, das weiß ich schon seit mehr als vierzig Jahren. Also,
was soll es?“
„Warum lassen Sie es dann nicht einfach sein?“
„Weil es falsch wäre. Einfach falsch. Ich muss mir in die
Augen sehen können, darum geht es. Nur darum.“
„Was treibt Sie bloß so an und um?“
„Es ist diese eine Erfahrung: Da liegt ein Mensch
zerschlagen und ausgekotzt im tiefsten Dreck und streckt mir die Hand entgegen.
Und ich nehme sie. Seine Geschichte, seine Herkunft, sein Glauben, seine
Wahrheiten sind in diesem einzigen kleinen Moment völlig belanglos. Was zählt
ist nur, dass da ein Mensch liegt und eine, meine, Hand braucht.“
„Dieser Mensch wird Sie, wenn es ihm später besser geht,
vielleicht erschlagen oder tot treten, weil Sie für ihn der Feind sind.“
„Ja, das ist gut möglich. Das ändert aber nichts an der Wahrhaftigkeit
dieses einen Momentes. Dieser eine Augenblick macht uns über alle Grenzen und über
alles Geblubber hinweg zu dem, was wir eigentlich wirklich und ausschließlich sind:
Menschen. Alles andere ist nur aufgesetzt, ein Spiel um Macht und Gier und Dummzeugs.“
„Er wird Sie töten. Auf irgendeine Art und Weise wird er
Sie töten.“
„Ja, vielleicht.“
„Sie sind naiv, Frau Müller!“
„Ja. Aber ich werde in den Spiegeln schauen und mir zu
lächeln können.“
25.7.15
„Lebe nach deinen eigenen Regeln!“
Immer wieder finde ich diesen plüschigen Rat in allen
möglichen und unmöglichen Zusammenhängen. Ich halte ihn für zu kurz gedacht,
denn du lebst nicht alleine auf einer Insel, sondern in einer Gemeinschaft mit
anderen Menschen. Schau dir genau an, welche Regeln es für das Zusammenleben in
dieser Gemeinschaft gibt. Versuche ihren Sinn oder Unsinn in Bezug auf eine friedliche
und rücksichtsvoll achtsame Gesellschaft zu reflektieren und entscheide dich dann,
welche davon du auch zu deinen Regeln machen willst, und welche nicht. Für die jeweiligen
Konsequenzen solltest du Verantwortung übernehmen können. Darüber hinaus gibt
es ganz individuelle Regeln, die du dir noch selbst für dein Leben setzen
kannst. Darin bist du ganz frei, jedoch nicht nur dir selbst gegenüber
verantwortlich (weil du halt nicht auf einer Insel lebst). Überprüfe inwieweit
diese, deine ganz eigenen Regeln, mit den Regeln der Gemeinschaft kollidieren
oder zusammen passen. Sie passen nicht zusammen, wären aber für die
Gemeinschaft vielleicht auch sinnvoll und schädigen niemanden? Dann versuche zu
überzeugen, indem du sie vorlebst. Sie passen nicht, denn sie würden dem
gemeinsamen Zusammenleben wesentlich schaden? Dann überprüfe/ändere sie, deine
Regeln. Alles andere erscheint mir unreflektierter Quatsch, der sich jedoch als
Spruch auf dem Sofakissen recht gut und wohlig Gefühle macht.
18.7.15
Da bringt einer Menschen um. Kommt dafür ins Gefängnis
und macht dort irgendeine Ausbildung. Dann geht das Geschrei los: „Wieso darf
er das? Er hat kein Recht dazu. Er ist ein Mörder. Köpft ihn oder verweigert
ihm zumindest jeden Komfort und jedes Privileg.“ Könnt ihr mal alle Luft holen
und kurz ein kleines bisschen nachdenken. Versuchen zumindest? Menschenrechte
und Menschenwürde werden einem nicht aberkannt nur weil man im Gefängnis (egal
aus welchem Grunde) sitzt. Und das ist gut so. Das eine ist deine moralische Empörung,
die darfst du haben und in allen tödlichen Phantasien schwelgen bis zum
Abwinken. Das andere sind Rechte, die allgemein gültig und verbindlich sein
müssen. Auch zu deinem Schutz! Da darf keine moralische Empörung mitmischen, denn
diese ist von so vielen subjektiven Faktoren abhängig, dass es keine
Möglichkeit gäbe, diese alle verbindlich unter einen Hut zu bringen. Das macht
die Rechtsprechung manchmal sehr ungerecht im subjektiven Empfinden, und die Empörung
darüber ist oft auch gut, denn dadurch wird aus einer starren Rechtsprechung
ein sich im Laufe der Geschichte entfaltender Prozess, der sich immer wieder
selbst überprüft und um Allgemeingültigkeit ringt. Das finde ich gut, auch wenn
ich manchmal kotzen könnte über all die Abzweigungen und Verstolperungen. Aber
ich bleibe dabei: Menschenrechte und Menschenwürde sind unveräußerlich. Punkt.
14.7.15
"Ich werde in den kommenden Tagen nichts mehr zu
Griechenland schreiben."
"Warum denn das, Frau Müller?"
"Weil ich mich seit Wochen und Wochen durch so viele
Informationen dazu durchquäle um dann unterm Strich doch nur feststellen zu
können: Entweder mir werden Zwischen- und Teilinformationen vorenthalten oder
ich bin zu deppert um den Gesamtüberblick über Zusammenhänge dritter, vierter,
fünfter... xy Ebene herzustellen. Die widersprechen sich doch in der
Berichterstattung und in den Kommentaren dazu manchmal drei Mal in einem
Satz."
"Na na, so schwierig ist das doch alles nicht, Frau
Müller."
"Allereigentlich nicht, wenn ich es mir mit meiner
Hausfrauenseele anschaue:
1. Du gibst Geld aus, dass du eigentlich nicht hast
und auch in nächster Zukunft nicht haben wirst - dann biste irgendwann pleite.
2. Du leihst dir Geld, weil du keines hast, obwohl jeder,
auch der Geldgeber, weiß, dass du das nie aus eigener Kraft zurückzahlen
kannst.
3. Du leihst dir wieder Geld, um Zinsen und Raten für das
geliehene Geld zahlen zu können. Am besten noch vom gleichen Geldgeber, obwohl
jeder, auch du, weiß, dass du dann niemals wieder die Chance hast, aus diesem
Kreislauf heraus zu kommen.
Im jeden kleinen Privathaushalt würde man, schon vor der
nächsten Kreditvergabe, in die Privatinsolvenz gehen und während der
Wohlverhaltensphase mal eine paar Kurse über solide Haushaltsführung belegen
müssen."
"Nun, bei Staaten und zwischen Staaten ist das
anders und viiiiiiieeeellll komplizierter, Frau Müller!"
"Eben, sag ich doch. Meinem einfachen Horizont
erschließt sich die innere Logik der Abläufe und die geistige Gesundheit aller
Beteiligten nicht. Also lass ich es einfach."
8.7.15
Im Laufe meines Lebens habe ich in Wohngemeinschaften, in
Studentenwohnheimen, alleine in normalen Wohnungen und einige Jahre im Ausland
gewohnt. Oft habe ich bei Auszügen fast alles zurück gelassen und ganz neu
angefangen. „Fast“ und das ist sonderbar, denn mitgeschleppt über all die Jahrzehnte
habe ich, nachdem ich mich mal in meinem jetzigen Hausstand umgesehen und
nachgedacht habe, folgende Gegenstände: Einen gusseisernen Schraubstock, ein
ebensolches Zweibein (Schuhmacherwerkzeug), ein altes Fotoalbum, eine Lupe und
mein Höckerchen. Seit nunmehr über vierzig Jahre begleiten mich diese Gegenstände.
Eine komische Auswahl, oder? Nein, eigentlich nicht, denn alle diese
Gegenstände stehen für das „glückliche“ Kind in mir. Mein Großvater war vor dem
Krieg gelernter Schuhmacher und nebenbei Uhrmacher. Nach dem Krieg war er
Kanalarbeiter, aber in seiner Freizeit hat er für die Nachbarschaft immer noch
Schuhe hergestellt, besohlt und Uhren repariert. Ich weiß nicht, wie viele Stunden
ich als kleines Kind mit ihm in seiner Werkstatt im Keller verbracht habe. Er
hat mir viel beigebracht und er hat mir beim Arbeiten so manche Geschichten aus seinem Leben erzählt. Auch zu
den Fotos im uralten Fotoalbum. Seine Geschichte und die seiner Familie. Und
auf dem Höckerchen stand ich morgens neben ihm beim Frühstücken, bevor er zur
Arbeit ging. Das sind wohlige Erinnerungen. Es gibt auch andere, mächtig dunklere
Bilder. Doch die wohligen, die waren und sind eine unglaubliche Ressource.
4.7.15
1.7.15
Bei der Arbeit mit dem "Inneren Kind" liegt der
Fokus oft auf dem verletzten (in welcher Form auch immer) Kind. Meine Erfahrung
lehrt mich aber, dass sich da in der Regel noch ein Zwilling versteckt: Das
fantasievolle, abenteuerlustige, spielfreudige, auf sich und die Welt
vertrauende Kind, das seine Umgebung, wenn es denn darf, noch mit einem
"magischen" Blick anschaut und
erobert. Wir locken es nicht raus aus seinem Versteck, wir geben ihm keinen
Raum zur Entfaltung, wenn wir uns zu sehr oder gar ausschließlich auf das
andere Kind konzentrieren. Beide müssen atmen können, beide brauchen unsere
Aufmerksamkeiten. Da ist einfach noch mehr drin, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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