10.11.19


Man überlebt
eine Vergewaltigung
nicht nur einmal,
sondern jeden Tag

Shiori Ito

Es gibt Verletzungen, die schlagen Wellen und Risse bis in den kleinsten Teil der Persönlichkeit. Die Vernarbungen bilden neue Muster, reiben an Vorhandenem und manchmal brechen sie, auch an unvermuteten Stellen, wieder und wieder auf. Heilung? Gänzlich? Nein. Lernen, damit umzugehen? Sich Pflege der Narben und grundlegende Selbstfürsorge aneignen? Ja. Überleben? Manchmal ja, manchmal nein.

9.11.19


Die Frauenbewegungen haben mich als sehr junge Frau sehr viel gelehrt. Sie haben mich ermutigt, erschüttert, enttäuscht, erschöpft, ermuntert, beschenkt. Ich habe mich in und mit ihnen groß und klein gefühlt. Schwach und mächtig. Aufgehoben und ausgestoßen. Belächelt und ermutigt.

Das Allerwichtigste jedoch geschah ganz am Anfang in den ersten Frauengruppen Mitte der siebziger Jahre und war für alle Bereiche meines Lebens fortan tragend: Ich war nicht allein! Nicht allein mit meinen Gedanken, meinen Zweifeln, meinen Visionen, meinem Körperempfinden, meiner Sprachlosigkeit, meinem Zorn, meinen verwirrenden Erfahrungen als Mädchen und Frau. Und hinter diesem „Du bist nicht allein!“ steckte ja noch ein zweites, nicht weniger Prägendes: „Du bist okay, so wie du bist!“

Ich wünsche mir seitdem, dass jeder Mensch einmal in seinem Leben diese Erfahrung bis zum Grunde auskosten kann. Eine Quelle nie versiegender Energie und Kraft. Die Ressource überhaupt um mit den Widrigkeiten und dem fordernden Durcheinander, dem Auf und Ab eines Menschenlebens auch nur irgendwie angemessen umgehen zu können.


Wenn wir zu allen Stunden grausige Geschehnisse
mitansehen und mitanhören müssen,
so verlieren wir schließlich,
selbst die von Natur Zartesten unter uns,
durch die ständige Folge der quälenden Eindrücke,
jegliches Empfinden für Menschlichkeit.

Marcus Tullius Cicero

Abstumpfen, sich an Unsägliches gewöhnen. Was hilft? Mir hilft: Ich goutiere Schönheit. In Bildern, Klängen, Wörtern, Dingen. Ich bade in fantasievollen Geschichten, atme Wunder und Wunderbares in kleinsten Dingen. Genieße das Zusammensein mit Familie und Freunden, plaudere über und lausche Alltäglichkeiten. Singe, tanze, lache. Teile meine Zeit mit Kindern und gebe meinem inneren Kind Raum zum Spielen. Die Balance zwischen der Grausamkeit und den Schönheiten des Lebens muss stimmen, ansonsten verrottet man innerlich.

8.11.19


Jedes Jahr, immer wieder, immer noch. Ich könnte es auch jetzt nicht anders formulieren. Und ich bin mir so sicher, dass er heute an unserer Seite wäre, um sich gegen die alten und neuen Rechten, mit all dem was er ist und kann, einzubringen.

Hallo Opa!

Heute wäre dein Geburtstag und wie jedes Jahr an diesem Tag spukst du vermehrt durch meinen Kopf und mein Gemüt. Ich vermisse dich so sehr, auch wenn du oft der Quell meines Leidens und meines Zorns warst. Du warst ein solch elendiger Patriarch und hast deinen „Weiber“haushalt mit strenger Hand geführt. Nur mir gegenüber warst du immer freundlich zugewandt und so wurde ich das Mädchen mit der weißen Fahne im Haushalt und immer vorgeschickt, wenn deine Töchter etwas von dir wollten.

Du warst derjenige, der mir Lesen und Schreiben beibrachte, denn als alter Gewerkschaftler warst du der festen Überzeugung, dass Bildung die Grundlage für jede Veränderung sei. Du hast Bücher über Bücher angeschleppt und mir damit so viele neue Welten eröffnet.

Du hast mir vom Krieg erzählt und von der Nazidiktatur. Schonungslos in deiner bildgewaltigen Offenheit. Es war dir egal, dass ich da manchmal in meiner kindlichen Seele überfordert war und für und um dich und all die anderen Menschen nächtelang weinte.

Du warst derjenige, der immer am Radio und dann später im Fernsehen Nachrichten hörte und sie mir geduldig erklärt hat. Du warst derjenige und einzige, der sich freute und verstand, als ich gegen jede Familientradition Abitur machte und studierte. Du warst derjenige, der meinen Mann willkommen hieß und ihm klar machte, dass dich persönlich Nationalitäten und Herkunft einen Scheiß interessierten, wenn da nur ein ganzer Kerl endlich seiner Enkelin, zu ihrer Sicherheit, ein paar Zügeln anlegen würde. Ihr zwei Machos habt euch prima verstanden.

Du warst derjenige, der meinen Sohn so sehr liebte und tatsächlich seinen Hintern bewegte und so oft bei uns war wegen ihm. Du warst derjenige, der mich immer ermutigte und erdete, wenn ich vor Zorn glühte wegen all der Ungerechtigkeiten in der Welt und der mich stärkte, als ich immer weiter und weiter in diese Welt hinausging und sie mir per Trampen und Gelegenheitsjobs eroberte.

Du warst derjenige, der immer ein Ohr für mich hatte und an dessen Tisch ich immer freundliches Verständnis und Speisen aus meiner Kindheit vorfand. Du warst allerdings auch derjenige, der meinen Vater vor mir verschwieg, meinen Bruder ablehnte und mich nach dem Tod deiner Frau in die graue Welt der Pflegeeltern schickte. Wir haben das später geklärt und nichts blieb ungesagt vor deinem Tod.

Du fehlst mir so sehr und das tragende Bild heute in meinem Kopf ist die Fahrt zwischen unserem freien Schrebergarten und dem so weit entfernten Zuhause auf deinem kleinen Moped. Laut singend – dir war so gar nichts peinlich, niemals und nirgendwo - hieltst du mich kleinen Fratz dabei fest vor dir auf dem Sitz und zeigtest mir deine Stadt mit all ihren schönen und schauerlichen Geschichten.

Ich habe so viel gelernt von dir, im Guten, wie im Schlechten und ich bin unendlich dankbar dafür, dass du mich eine Weile in meinem Leben begleitet hast. Du fehlst, verdammt, du fehlst.