Ja, es waren
wirklich tolle Zeiten,
- als man
uns gleich nach der Geburt unseren Müttern wegnahm und uns in ein Zimmer mit
fünfzig anderen brüllenden Säuglingen steckte,
- als man
uns schreien ließ, bis wir blau wurden, weil man uns nicht
"verwöhnen" wollte und weil unser Geschrei angeblich Lungen und
Charakter stärkte,
- als
unseren Müttern vom Stillen abgeraten wurde, weil das die Figur verdirbt,
- als man
ihnen Contergan als Schlaf- und Beruhigungsmittel verschrieb, wovon sie missgebildete
Kinder bekamen,
- als Eltern
und Lehrer uns straffrei grün und blau prügeln durften, am besten noch mit
Ansage (Warte nur, wenn der Papa von der Arbeit kommt), damit wir auch genug
Zeit hatten, uns ordentlich zu fürchten,
- als man
uns beibrachte, uns für unseren Körper zu schämen, uns beibrachte, dass das
"da unten" pfui bäh ist und uns verdrosch und ewiges Höllenfeuer
androhte, wenn man uns beim Onanieren erwischte,
- als wir
uns von Tanten und Onkeln, Omas und Opas und sogar von Wildfremden abknutschen
lassen mussten,
- als
Erwachsene uns ungebeten an die Wäsche gingen und uns rücksichtslos missbrauchten,
ohne Aufdeckung zu befürchten, weil die Scham uns den Mund verschloss und uns
sowieso niemand geglaubt hätte,
- als der
Papa nachts im Bett schreiend hochfuhr, weil die Bilder von der Front ihn bis
in den Schlaf verfolgten,
- als Mama
und Oma bei jeder Silvester-Knallerei zusammenzuckten, weil sie das an die
Bombennächte im Luftschutzkeller erinnerte,
- als auch
die Mama sich schon mal eine einfing und für den Papa die Beine breit machen
musste, ob sie Lust hatte oder nicht, weil das zu den "ehelichen
Pflichten" gehörte und sowas wie Vergewaltigung in der Ehe völlig
unbekannt war,
- als die
Mama morgens mit blauem Auge heulend am Küchentisch saß, weil es mal wieder
"so eine Nacht" gewesen war, was wir Kinder übrigens schon
mitbekommen hatten, denn solche Nächte liefen nie geräuschlos ab,
- als sie
ohne Erlaubnis vom Papa keinen Arbeitsvertrag unterschreiben und nicht mal ein
Bankkonto eröffnen durfte,
- als
Schulkameraden von Masern und Polio taub und lahm wurden oder gar dran
verreckten, weil es noch keine oder nicht genügend Impfstoffe gab,
- als dieser
unheimliche graue LKW auf dem Schulhof stand, der hinten eine Leinwand hatte,
auf der ein Film über ABC-Luftschutzmaßnahmen gezeigt wurde, in denen Häuser zu
Staub zerfielen,
- als wir
bei Vollbremsungen und Auffahr-Unfällen durch die Frontscheibe flogen oder uns
das Genick brachen, weil es keine Gurte, Kopfstützen, geschweige denn Airbags
gab und das jüngste Kind im VW Käfer auf der Hutablage mitfuhr,
- als die
Werbung uns an jeder Straßenecke, im Fernsehen und vor jedem Kinofilm entgegen
brüllte, wie cool das Rauchen (und das Saufen) ist,
- als der
Rhein voll toter Fische war und zum Himmel stank,
- als
Chemiefabriken und Schwerindustrie ganze Landstriche verpesteten und man in
manchen Regionen keine Wäsche nach draußen hängen geschweige denn vernünftig
atmen konnte,
- und ja,
als wir den Dreck aus Erdnuss- und Kaugummi-Automaten fraßen und dafür auch
noch unser eh schon spärliches Taschengeld opferten.
Ihr habt
diese Zeiten überlebt. Ihr hattet, trotz alledem, schöne und beglückende
Erlebnisse, an die ihr euch gern erinnert. Seid dankbar dafür, seid zutiefst
dankbar, aber hört auf, hier einen vom Pferd zu erzählen.
Manches von
dem, was uns damals das Leben schwermachte, bedrückt auch die heutigen Kinder
noch, anderes werden sie zum Glück nie erleben müssen. Und ja, es gibt heute
Belastungen, die wir uns damals im Traum nicht hätten vorstellen können - und
es gibt Freuden, von denen wir ebenfalls keine Ahnung hatten.
Was schon
immer gezählt hat, sind echte Freundschaften, Menschen, die vorbehaltlos zu dir
stehen, Menschen mit denen du durch Dick und Dünn gehst. Ohne sie bist du
verratzt und daran hat sich bis heute nichts geändert und daran wird sich auch
nie was ändern.
Jede
Kindheit hat ihre schönen und schrecklichen Momente und oft liegen Horror und
Glückseligkeit dicht beieinander - und das, meine Guten, hat absolut nichts mit
dem Geburtsdatum zu tun.
Denn wenn
die Tatsache, dass es damals noch keine Smartphones, Laptops und Internet gab,
alles ist, woran ihr euch hochzieht, und wenn ihr die heutigen Kinder gar dafür
bedauert, dass ihnen diese Erfindungen zur Verfügung stehen, dann seid ihr
einfach nur traurige Gestalten, die sich vielleicht mal ne Therapie suchen
sollten. Denn ihr verdrängt ohne Ende - was euch wiederum niemand ernsthaft
vorwerfen kann, weil manche Erlebnisse wirklich zu schrecklich waren, um sie
erinnern zu wollen.
Problematisch
wird es aber immer dann, wenn ihr den heutigen Kindern erzählen wollt, welch
schreckliches Leben sie haben. Damit droht ihr, ihnen den Mut, die Zuversicht
und das Selbstbewusstsein zu nehmen, die sie zur Bewältigung ihrer eigenen
Zukunft so dringend brauchen.
Danke fürs
Lesen - und setzt, verdammt noch mal, die rosarote Brille ab!“
Johannes Busch