„In welchem Land würden Sie gerne leben, Frau Müller?“
„In diesem Land. Ich bin froh und dankbar, dass ich hier
geboren wurde, aufgewachsen bin und immer noch lebe. Hier gab es in meiner
Lebenszeit weder Krieg, noch Hungersnöte. Es gab keine Diktatur, keine
Ermächtigung, keine lebensbedrohlichen Militäraktionen. Ich konnte zur Schule
gehen, studieren, mich einbringen mit bürgerlichem Engagement. Ich musste nicht
um mein Leben oder das Leben der Meinigen fürchten. Wenn ich mich gegen den
Mainstream wandte, konnte ich dies offen und ohne einen nachhaltigen körperlichen
Schaden zu nehmen tun. Ich konnte Form und Ausgestaltung meines Lebens
eigenverantwortlich wählen.“
„Das ist aber sehr blauäugig, Frau Müller! In Ihrer
Lebenszeit gab es die Zeit des Berufsverbotes, die Folgen von Hartz IV,
Aufrüstung, Not und Elend der Arbeitslosigkeit, Diskriminierungen jedweder Art.
und, und, und … unsere Demokratie, unsere Geschichte der letzten Jahrzehnte
strotzen nicht gerade nur von Erfolgsgeschichten, sondern haben auch ihre
dunkle Seiten und Schattenwelten.“
„Das bestreite ich nicht. In keiner Weise. Aber ich konnte
und kann mich einbringen. Kann mich laut und öffentlich dagegen wehren. Kann mich
engagieren und kämpfen. Kann wählen, ob ich hinnehme oder nicht. Das mag für
viele Menschen, weil es so selbstverständlich ist, nichts Besonderes sein. Für mich
war und ist es etwas Besonderes, weil es das eben nicht überall auf der Welt
gab und gibt. Rückblickend kann ich doch sehen, was sich im Laufe von fast
sechzig Jahren geändert hat. Und vieles davon ist gut. Es könnte noch besser
sein, manches ist erschreckend schrecklich, aber es ist eben auch vieles gut.“
„Doch jetzt scheint sich einiges, auch hier, zu verändern,
oder?“
„Nun, meine Komfortzone in diesem, meinem Land hatte und hat
natürlich seinen Preis. Bezahlt haben und bezahlen tun den die Menschen in
anderen Ländern durch Ausbeutung, Hunger, Krieg. Ihr Tod, Leid und Elend
ermöglichten meinem Land, und auch mir, die Schaffung der Rahmenbedingungen für
ein annähernd freiheitliches Leben, in denen
es möglich war mit Themen wie z.B. Gleichberechtigung, Inklusion,
Rechtssicherheit, Aufbruch traditioneller Rollenbilder in Familie und
Arbeitswelt, Bürgerinitiativen, Meinungsfreiheit, Erziehung, Selbstverwirklichung
und vielen mehr real zu experimentieren und diese peu à peu neu zu gestalten.
Es war absehbar, dass dies in einer globalisierten Welt nicht immer so weiter
gehen könne und ich, wir uns an der Bezahlung des Preises irgendwann würden
beteiligen müssen. Diese Zeit kommt nun. Ich sehe dies jedoch als große Chance:
Lassen wir die Menschen, die jetzt zu uns kommen, teilhaben an den Kenntnissen
und Errungenschaften der letzten sechzig Jahre. Teilen wir mit ihnen unsere
Lebensart, unsere gewonnenen und verfestigten Werte und unseren Wohlstand. Aus
der sich daraus ergebenden Mélange werden wir letztendlich langfristig als Menschheit
alle nur profitieren können. Davon bin ich zutiefst überzeugt.“
Ja, man könnte jeden einzelnen Punkt hier detaillierter
ausführen, unterfüttern, belegen. Alle Wenn und Abers einbringen. Viel, viel
konkreter werden. Sollte aber keine Buch oder Doktorarbeit werden.
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