Ein zentraler Text, der es auch mir viel verständlicher macht:
STURM AUFS KAPITOL:
Gebt mir ein Blutbad!
VON WOLFRAM SIEMANN /08.01.2021
Wie leicht es ist, ein Parlament
zu stürmen, vergisst man in Amerika schnell: Das Kapitol am Abend des 6.
Januar.
Donald Trump hatte ein klares
Kalkül, als er die Massen zum Sturm des Kapitols anstiftete, wie man mit guten
Argumenten spekulieren kann: Er wollte die Gewalt schüren, um dann den Notstand
ausrufen und an der Macht bleiben zu können. Ein Gastbeitrag.
Als Historiker der Revolutions-
und Polizeigeschichte sehe ich die gegenwärtigen Vorgänge in Washington in
einem besonderen Kontext. Ich beobachte Trump schon lange als einen Politiker,
der auf eine populistisch gestützte, in Teilen faschistisch geartete Diktatur
zustrebt – auch wenn er selbst kein Faschist ist – und dabei eine den zwanziger
Jahren und den Nazis ähnliche Methode anwendet: Delegitimierung der
Verfassungsinstitutionen, permanente Propagandalügen, effektvoll emotionale
Slogans, die Opposition als absolutes Feindbild statt als demokratische
Alternative, das System als Ganzes negierend, begleitet von zielstrebigen
Machteroberungen, quasi der Gang durch die Institutionen bei der Besetzung von
Richterstellen, Hineinregieren in die Verhältnisse der Einzelstaaten,
permanente Missachtung verfassungsmäßig gesetzter Grenzen, zuletzt beispielhaft
in dem Manipulationsversuch, das Wahlergebnis Georgias von außen her zu ändern.
In den vergangenen Wochen kam
höchst alarmierend die Neubesetzung der Schlüsselpositionen bei Militär und CIA
hinzu. Dort war man hellauf alarmiert, so stark, dass die zehn letzten lebenden
Verteidigungsminister mit einer Erklärung vor dem Einsatz des Militärs in der
Wahlkampffrage warnten. Das passt zu Trumps mehrfacher Ankündigung, man werde
sich am 6. Januar noch wundern.
Dann fand die über die sozialen
Medien mobilisierte Massenveranstaltung zeitlich parallel zur konstituierenden
Sitzung des Kongresses statt, der die Wahl abschließend sanktionieren sollte.
Ich spekuliere mit guten Argumenten darüber, wie Trumps Strategie lautete,
wobei man wissen muss, dass er unter anderem mit seinem kriminellen, dann
begnadigten Exberater Flynn im Weißen Haus schon einen Disput über die
Ausrufung des Notstands hatte: Trump mobilisierte und enragierte die
versammelten Massen, bis sie zum Kapitol marschierten – auf seine Aufforderung
hin zu dem erklärten Zweck, den schwachen Republikanern zu Hilfe zu kommen. Mit
der Wut, in die er sie versetzt hatte, war der Sturm des Parlaments zu
erwarten, das hat er einkalkuliert. Er rechnete mit einer vollständigen
Handlungsunfähigkeit des Parlaments.
Es wäre die Stunde der
Exekutive gewesen
Wenn man die Bilder vom Ansturm
im Innern des Kongresses sah, erkannte man, wie die zu schwachen
Sicherheitskräfte beständig zurückgedrängt wurden. Hier wirkte wie insgesamt
beim Ansturm das Gesetz der Masse in revolutionären Umständen. Und hier halfen
keine eigenen Polizeikräfte des Kapitols mehr. Wenn sich solche Massen in
Bewegung setzen, kann man sich ihnen mit den regulären, kommunalen Kräften
nicht mehr entgegenstellen, es sei denn, man riskierte ein Blutbad. Möglicherweise
hätten ganz zu Beginn Wasserwerfer noch geholfen.
Nancy Pelosi, die demokratische
Sprecherin des Repräsentantenhauses, rief um Hilfe der Nationalgarde, doch der
Verteidigungsminister lehnte ganz im Sinne Trumps ab, das sei nicht nötig.
Trump hielt sich ganz heraus, verfolgte alles am Fernseher und vertraute auf
die Dynamik, dass der Angriff im Parlament so weit gehen würde, es völlig
handlungsunfähig zu machen – was ja vorübergehend gelang – und zugleich ein
unkontrolliertes Blutbad anzurichten. Das wäre die Stunde der Exekutive
gewesen: Der Präsident erklärt das demokratische Handlungszentrum für
handlungsunfähig und ruft den Notstand aus, um wieder „Ruhe und Ordnung“
herzustellen. Damit wäre er Herr der militärischen Exekutive geworden und der
Kongress kaltgestellt, die Zertifizierung der Wahl zugleich wäre verhindert
worden – genau der Fall also, den die zehn Verteidigungsminister kommen sahen.
Am Abgrund der Demokratie
Vizepräsident Mike Pence hat ihm
einen Strich durch die Rechnung gemacht, indem er seinerseits eigenmächtig und
vorzeitig – vor einem Blutbad – die Nationalgarde rief und die unkontrollierte,
aber von Trump erwünschte Eskalation verhinderte. Und die Nationalgarde folgte
einer für Trump kontraproduktiven, deshalb großartigen Regie. Sie drängte die
Menschen zurück, machte die Treppen des Kapitols frei und stellte die
umgerissenen Barrieren wieder auf. Weil das unblutig ablief, konnte Trump nicht
mehr militärisch zuschlagen. Er kündigte aber an, dass der Kampf weitergehe,
dass er die Wahl nicht verloren habe und dass er die Aufrührer „liebe“ und sie
etwas „Besonderes“ seien.
Die Polizei war erst zu schwach
ausgestattet, dann blieb sie auf Geheiß der Trump-Regierung untätig. Trump
musste die Dynamik der Situation also klar gewesen sein, wenn er einen
Massenaufruf zur Protestversammlung mit ihm als Redner veranlasste, während
gleichzeitig das schlecht geschützte Parlament tagte. Es kommt nicht darauf an,
welche Ziele die Massen konkret verfolgten. Es genügte ihre physische
Bedrohungspräsenz und die Chance zu einem Gewaltausbruch, zu dem die
„Patrioten“ Trumps instrumentalisiert wurden.
Trump wollte Notstand
provozieren
Es fehlte nur der letzte Baustein
zur Ausrufung des Notstands, in dem Trump als militärischer Befehlshaber befugt
gewesen wäre, alle Ausnahmekompetenzen wahrzunehmen. Dass er die Nationalgarde
vor einer an die Wand gemalten Bürgerkriegssituation „gegen Terroristen“
einzusetzen bereit ist, hat er schon bei den „Black Lives Matter“-Protesten
bewiesen, als er die Kräfte ungerufen in einen einzelnen Bundesstaat gegen den
Protest von dessen Gouverneurin schickte. Sein früherer Verteidigungsminister
hatte sich geweigert, militärische Kräfte in Washington einzusetzen, weil das nicht
Aufgabe des Militärs sei – und wurde deshalb entlassen. Der neue
Verteidigungsminister war demgegenüber willfährig.
Ein Reporter hat die Situation
zutreffend eingeschätzt, als er sagte, man sei am Rande des Abgrunds der
Demokratie gewesen. Den Amerikanern fehlt in der Regel die Phantasie, wie
leicht es ist, mit geschickten Eroberungen in den Institutionen Militär und
Polizei sowie mit einem engen Kreis loyaler Genossen ein System auszuhebeln,
oder anders gesagt: Sie vertrauen zu fest der Widerstandskraft ihrer
Institutionen. Sie können sich nicht vorstellen, dass man diese auch
vollständig missachten kann. Jetzt wissen sie, wie leicht es ist, ein Parlament
zu stürmen.
Wolfram Siemann lehrte bis zu
seiner Emeritierung 2011 Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in
München.
Quelle: F.A.Z.
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