„Leiden Sie eigentlich sehr unter der Corona-Situation,
Frau Müller?“
„Leiden? Nein Leiden würde ich das wahrlich nicht nennen.
Leiden ist ein gänzlich anderes Niveau und auf diesem befinde ich mich sicher
noch nicht. Ich fühle mich allerdings in vielen meiner Bequemlichkeiten eingeschränkt
und durch die Selbstisolation etwas berührungsmäßig vernachlässigt. Auf der
anderen Seite ermöglichten mir die vergangenen Monate das Ein- und Erarbeiten bereichernder
Themenbereiche (Computerspiele, neue Kommunikationstechniken, Zeichnen und
Hausaufgabenbegleitung einer Grundschülerin). Mein Zeitverständnis hat sich
verändert, da ich frei über dieselbe verfügen kann. Mein Biorhythmus dankt es
mir.
Der Preis für all das? Finanziell ist alles ausgereizt. Absolut
Lebensnotwendiges geht gerade noch so. Aber, das bin ich ja gewöhnt.“
„Also auch keine Ängste? Von wegen Ansteckung und so?“
„In denen habe ich im April gebadet, sicher. Die
Auseinandersetzung mit dem Sterben und dem Tod sind mir jedoch schon sehr lange
vertraute Denkbereiche. Da braucht es keine Versöhnung mehr. Und meine
körperlichen Beschwerden, die trage ich schon seit Jahren mit mir rum. Haben
nichts mit Corona zu tun. Ich kümmere mich um sie und um mich. Meine Verantwortung.“
„Also alles gar nicht so schlimm?!“
„Was ist los mit Ihnen? Nicht schlimm? Da verrecken hunderttausende
Menschen elendig. Andere verlieren Arbeit und Brot und ihre sozialen
Auffangnetze. Alles was Freude, Spaß, Befriedigung von Körper und Seele schafft,
unterliegt sinnigen und unsinnigen Verboten. Wir treiben und werden getrieben
in einem uns oft unverständlichen Strom von Ungeheuerlichkeiten. Wie unter einem
Brennglas knallen uns die gesellschaftspolitischen Verfehlungen der letzten Jahrzehnte um die Ohren. Schlimm?
Es ist nicht schlimm, es ist entsetzlich!“