Fremdtexte

 Hier finden sich fremde Texte, die ich für zentral und wichtig halte. 


Psychoanalyse am Ende der Politik – gibt es eine denkbare Alternative zur postmodernen Trias von Ökonomismus, Globalismus und Digitalismus?

Jürgen Hardt, Wetzlar      
Vortrag in Leipzig am 07. November 2015
[Der Text darf mit Verweis auf den Autor weiterverbreitet werden.]

I
Der Titel des Vortrags ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann!  Es ist aber eine Frage, die meines Erachtens dringend gestellt werden muss. Sie wartet auf eine Antwort. Zu ihrer Beantwortung hätte die Psychoanalyse Wesentliches beizutragen.
Verschiedene Konzepte, die ich anspreche, sind unscharf und bedürfen der Klärung; so wird zu klären sein, was unter der postmodernen Trias und was unter Politik zu verstehen ist, denn das sind keine festdefinierten Begriffe, sondern eher Konzepte, die voneinander abhängen, aufeinander verweisen und ineinander übergehen, so dass die Konzeptklärung einer Darstellung der Verhältnisse entspricht.
Ich stelle zuerst thesenartig die Entwicklungswege der Postmoderne bis zu unserer Zeit dar. Danach werde ich meine Stationen der Beschäftigung mit der Politik nachzeichnen und dabei zusammenfassen, was ich in vielen Publikationen ausgeführt habe. Die anschließende Zeitdiagnose werde ich mit aktuellen Stellungnahmen belegen. Mein Fazit wird schließlich sein: Psychoanalytiker sind aufgefordert, sich einzumischen in den politischen Prozess, sie müssen ihr diskretes Wissen vom Leben und vom Unbewussten in geeigneter Weise der Gesellschaft zu Verfügung zu stellen, damit die sich abzeichnende schwere kulturelle / gesellschaftliche Pathologie nicht weiter steigert und schließlich chronifiziert, so dass keine Therapie mehr möglich ist.
II
Die heutige Gesellschaft / Kultur (ich verwende diese Begriffe in ähnlich unscharfer Weise wie Sigmund Freud) ist durch Prozesse geprägt, die sich Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre in den hochentwickelten westlichen Industrieländern (J.-F. Lyotard) abzeichneten. Diese Prozesse sind damals vielfältig beschrieben worden und waren mit unterschiedlichen Hoffnungen und Befürchtungen verbunden. Ich will diese Prozesse kurz benennen:
Jürgen Habermas beschrieb die gesellschaftliche Entwicklung der späten Moderne und benutzte dabei das von Max Weber stammende Konzept der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung. Wesentlich erschien ihm, dass die Ausdifferenzierung die moderne Gesellschaft zwar erfolgreich, zugleich aber sinnentleert machen könne. Denn die gesellschaftlichen Subsysteme von Wirtschaft und Verwaltung seien mit ihrer funktionalen Logik übermächtig geworden und würden die Lebenswelt, das heißt die Welt, die Sinnzusammenhänge für das Leben bereithält, unterwerfen, kolonialisieren und für ihre Zwecke ausbeuten. Habermas blieb aber standhaft dem modernen Glauben der Aufklärung treu und hielt daran fest, dass im zwanglosen und gleichberechtigten Diskurs die aufgetretenen Spannungen und Konflikte gelöst und zu einem einvernehmlichen Ergebnis - zu aller Vorteil - geführt werden könne.
Zur gleichen Zeit beschäftigte sich Jean-Francois Lyotard mit ähnlichen Phänomenen, allerdings von einer aktuellen Fragestellung ausgehend. Er war von der Universität Quebec um eine Einschätzung gebeten worden, wie sich das Wissen, der Wissenserwerb und die Universitäten sowie die „Intelligentsia“ unter dem Einfluss der Computerisierung verändern werden. Sein Gutachten stellte eine Condition postmoderne fest. Wesentlich waren für ihn folgende Befunde: Wissen wird sich in Datenmengen darstellen, Sinnbezüge werden verloren gehen. Effektivitäts- und Effizienzdenken wird die Suche nach Wahrheit ablösen. Im Zusammenhang mit dem Siegeszug des Neoliberalismus wird es zu einer Ökonomiesierung des Wissens und der Universität kommen, dabei wird das moderne Anliegen von Aufklärung und Demokratisierung der Gesellschaft keinen „Glauben“ mehr finden; ein Mehr an Wissen wird zu einem Wettbewerbsvorteil, der nur noch zu eigenem Vorteil nützen soll. Lyotard glaubte allerdings nicht - sowohl wegen der Machtverhältnisse als auch, weil das funktionale Denken sich durchsetzen werde - an einen einvernehmlichen Ausgleich zwischen sinnhaftem Streben und funktionalem Erfolg. Er war weniger optimistisch als Habermas, was ihm den Vorwurf einbrachte, er verrate die Ideale der Aufklärung: Lyotard forderte, den Widerstreit der unterschiedlichen Bereiche anzuerkennen und zu bezeugen, das heißt die sinnstiftenden Projekte von Aufklärung und Befreiung des Menschen nicht aufzugeben, an ihnen festzuhalten und sie zu bewahren, auch wenn kaum jemand mehr daran glauben will.
Michel Foucault war in dieser Zeit mit den gesellschaftlichen / kulturellen Änderungen befasst, die durch den stillen Siegeszug neoliberalen Denkens bewirkt worden waren. Das neoliberale Regiment hatte die Mangelgesellschaft in eine des Konsums und des Überflusses gewandelt. Er versuchte, seine Archäologie gesellschaftlicher Strukturen in die heutige Zeit zu verlängern. Wobei er erhebliche Unterschiede in der heutigen Machtausübung im Gegensatz zu früheren Zeiten ausmachte. Waren früher Subjekte einem Souverän unterworfen, der mit Strafe und Tod gewaltsam seinen Willen durchsetzte oder eine Versorgung mit oder den Entzug von Lebensnotwendigem versprach, geschieht das neoliberale Regieren ohne Ausübung äußerer Gewalt, in freiwilliger Unterwerfung. Das postmoderne Subjekt entwickelt seine eigene Gouvernementalität, regiert sich entsprechend seiner gesellschaftlichen Mentalität. 
Ebenfalls zur gleichen Zeit beschäftigte sich Jean Baudrillard mit der beginnenden Virtualisierung. Er zeigte auf, wie Fiktives anstelle von Wirklichkeit tritt und welche Gewinne und welche Macht daraus zu erlösen sind; er sah als erster voraus, dass die beginnende Virtualisierung eine mächtiger Wirtschaftszweig werden wird.
Im angelsächsischen Raum begann sich zur gleichen Zeit die Finanzialisierung durchzusetzen. Dieser Prozess mit dem ungelenken Begriff hat ihn Deutschland keine ausführliche Diskussion hervorgerufen, ganz im Gegenteil zu den USA, wo er „beheimatet“ ist und von Beginn an heftig kritisiert wurde (Die grundlegenden Konzepte sind von der Chicago School of Economics unter Führung des Neoliberalen Vordenkers Milton Friedman entwickelt worden; eine genaue Darstellung findet sich im englischen Wikipedia, im deutschen gibt es keinen Eintrag!).
Was ist unter Finanzialisierung zu verstehen? Das ist nicht leicht zu definieren, weil es verschiedene Lesarten gibt. Am eingängigsten scheint mir folgende Definition:
Finanzialisierung bedeutet ein wirtschaftliches System oder ein Prozess, in dem angestrebt wird, alle Werte, die gehandelt werden können, in finanzielle Instrumente (Wertpapiere, Handelspapiere) zu verwandeln (seien es reale Sachwerte oder ideelle Werte, zukünftige oder gegenwärtige, zu erwartende oder sichere usw.).  Die Intension der Finanzialisierung besteht darin, alle Arbeitsprodukte und Dienstleistungen in austauschbare finanzielle Werte wie Währungen zu verwandeln, um mit ihnen leichter handeln zu können. So kann z.B. ein Arbeiter seine zukünftige Arbeit oder seinen Lohn als Wert für eine Hypothek eintauschen und so Gesundheit und Leistungsfähigkeit finanzialisiert. Dadurch entsteht aber ein finanzielles Risiko, das wiederum versichert werden kann. Aber auch dieses Risiko wird als eine Ware angesehen, deren Wert auf einer Wette beruht, ob der Versicherungsfall und wenn mit welcher Wahrscheinlichkeit eintritt. So wird Geld ohne realen Bezug unendlich vermehrbar und höhlt die Realität aus…
Damit beginnt der Aufstieg des Finanzmarktes, der mit einer Ökonomisierung der gesamten Gesellschaft und zugleich einen Marktglobalismus verbunden ist. Der Handel mit sogenannten Finanzprodukten, Wetten auf zukünftige Gewinne und Verluste, wird zum größten Geschäft aller Zeiten, das die Gewinne aus der Realwirtschaft in kürzester Zeit bei weitem überwiegt. Sehr früh werden die damit verbundenen Gefahren, besonders die zunehmende Verschuldung, für Wirtschaft und Gesellschaft beschrieben. Schwer zu beherrschende Krisen werden vorausgesehen. Die voranschreitende Digitalisierung beschleunigt die Handelsprozesse mit Derivaten (Wettgeld mit Versicherungen, aber unklaren Sicherheiten) und weitet ihren Spielraum global aus. Die Finanz verliert jede Bindung an reale Werte und damit an die Lebensrealität.
Von Beginn an wird auf die zunehmende Ungleichheit in der Vermögensverteilung hingewiesen, die in Folge der Finanzialisierung eintreten wird. Auch die Gefahren für freiheitliche Demokratien werden gesehen, denn der globale Finanzmarkt wird sich über die von ihr abhängigen Regierungen hinwegsetzen und die chronisch verschuldeten Länder unter Druck setzen. Sehr früh wird das unverantwortlich Spielerische bemerkt, das zu einer Realitätsverkennung verführt. Schon die ersten Insider-Kritiker verweisen darauf, dass eine Rückkehr in eine von Lehen und Zinswucher gekennzeichnete Feudalherrschaft bevorsteht. Regieren werde wieder von Finanzhäusern abhängig, ähnlich wie beim Aufstieg der Habsburger am Beginn der Neuzeit. (Joseph Vogel: Fugger Episode von Karl V.)
Trotz der heftigen anfänglichen Kritik und der intellektuellen Schwäche seiner Argumentation setzt sich die Finanzialisierung als neoliberales Gesellschaftsprogramm durch. Mit heftigem Aufwand gesponsert, wird das Ende der politischen Geschichte beschworen, die beste aller (finanzierbaren) Welten scheint erreicht. Das New Public Management der ehemals gemeinnützigen staatlichen Solidareinrichtungen beginnt; d.h. die Privatisierung von Gemeinschaftseinrichtungen. Privatisierung von Gemeinschaftseinrichtungen und -eigentum, wird unter dem Regiment des globalen Wettbewerbs zur unabweisbaren Notwendigkeit erklärt. In einer Bedeutungsverschiebung, wird die Privatisierung öffentlicher moderner  Institutionen – wie der Post, der Bahn, Krankenhäuser, Universitäten - als Schritte der Modernisierung bezeichnet, obwohl sie ein Abbau moderner Errungenschaften war. .
Die intellektuelle Kritik an dieser Entwicklung verstummt nicht, oppositionelle politische Programme, die auf die Schattenseiten der glänzenden Erfolge hinweisen und alternative gesellschaftliche Entwicklungen anstreben, halten sich, bis die politische Entwicklung der neoliberalen Transformation der Gesellschaft / Kultur Recht zu geben scheint. Der Ostblock als Gegenpol der westlichen freiheitlich kapitalistischen Welt entfällt. Wegen der darwinistischen Grundtönung wird der Zusammenbruch der Planwirtschaft als Zeichen der Überlegenheit und damit der Wahrheit neoliberalen Wettbewerbsdenkens gewertet. Die Kritik wurde leiser, die politische Zustimmung zu neoliberalen Grundannahmen wuchs und so wurden sie langsam zu Selbstverständlichkeiten, die wie Naturereignisse hinzunehmen sind, weil es zu ihnen unter den bestehenden Verhältnissen keine Alternative gibt. Das Ende der Geschichte, das Ende der Ideologie, das Ende der Politik als Wahl zwischen Alternativen ist gekommen. Politik hat angeblich ihren Zweck erfüllt. Der Staat wird anämisch, klinisch tot, schreibt der Leipziger Politologe Wolfgang Fach 2000.
II
In der Zeit meiner psychoanalytischen Ausbildung, bis in die 80er Jahre hinein, galten Psychoanalyse und Politik als unvereinbar. In meiner Sozialisation zum Psychoanalytiker sollte ich mir abgewöhnen trotz der politisch bewegten Zeit der 60er Jahre politisch zu denken. Gleichzeitig war ich in meiner analytischen Ausbildungszeit in der hochpolitischen sozialpsychiatrischen Bewegung aktiv, was von einigen Ausbildern mit Bedenken zur Kenntnis genommen wurde, aber es wurde mir verziehen, es war sozusagen außerhalb der Psychoanalyse.
Ich integrierte mich recht schnell in die DPV und kam als sehr junger Mann in den Vorstand, worin ich gegenüber den anderen Amtsträgern in einer Kindergeneration war. Vielleicht deswegen wurde ich von den älteren, sehr geachteten Kollegen öfter ins Vertrauen gezogen. Ein angesehener und wissenschaftlich verdienter Kollege raunte mir in einer Mitgliederversammlung vertraulich zu: „Stellen Sie sich vor, der ist im Stadtrat von X und… dann auch noch für die SPD.“ Der vertraulichen Aufforderung, ihm zuzustimmen, konnte ich nicht einfach Folge leisten, denn ich wusste, dass dieser, auch von mir geschätzte, Kollege Mitglied im „Bund Freiheit der Wissenschaft“ war, einer ultrakonservativen Hochschullehrervereinigung, die sich gegen die, meines Erachtens überfälligen und notwendigen, Hochschulreformen gestellt hatte.
Diese politischen Differenzen waren aber kein Thema der Psychoanalyse. Das gesellschaftliche Engagement von Horst-Eberhard Richter galt schlicht und einfach als unanalytisch und wurde damit abgetan oder es wurde mit Schweigen übergangen. Mein anhaltendes Engagement in der Sozialpsychiatrie, verbunden mit meinen Versuchen, Sozialpsychiatrie mit analytischen Konzeptionen zu verbinden und weiter zu entwickeln, sowie mein Aufruf dazu, sozialpsychiatrisch / politisches Engagement mit einer analytischen Haltung zu verbinden, interessierte „offiziell“ niemanden. Ich hatte den Eindruck, es wurde mir verziehen.
Nach dem Ende meiner Funktionstätigkeit in der DPV, wo die politische Realität höchstens im Zusammenhang mit Fragen der Stundenkontingente (3 oder 4 Stunden als Frequenz, 300 Stunden als Grenze) oder der KBV-Anerkennung zum Thema wurde, übernahm ich als Kammerpräsident eine Funktion in der Berufs- und Gesundheitspolitik, womit ich in die gesellschaftlich politische Realität gestoßen wurde. Das stellte verschärft die Problematik, die psychoanalytische Haltung als politische Position zu verstehen. Die psychoanalytische Haltung als politische Position zwingt zum Hinterfragen der eigenen Motive und zum Verstehen der Motive des Gegners. Damit bewirkt sie eine Distanz gegenüber den Geschehnissen, die im politischen Eifer unüblich oder gar hinderlich ist. Dort ist man selbstgewiss, hat es schon immer gewusst und der Gegner versteht nichts und alles falsch; das verschafft klare Fronten und die brauchen wir in der öffentlichen Auseinandersetzung.
Das politische Geschäft der Berufs- und Gesundheitspolitik erschien mir seltsam. Ich brauchte eine gehörige Zeit, um die Sprache und die damit verbundene Denkweise zu lernen, in der über Psychotherapie und Psychoanalyse als Heilbehandlung gedacht und entschieden wird. Am seltsamsten erschien mir der Neusprech der Gesundheitsökonomen, d.h. der Gesundheitswirtschaft und der Gesundheits-Administration, der sich völlig von der Sprache der Therapeutik gelöst hatte. Krankheit war zum Unwort geworden, denn Behandlung durch Ärzte und Psychologische Psychotherapeuten war als Leistungserbringung für Kunden mit Gesundheitsbedarf um etikettiert worden. Ich begann langsam zu verstehen, was Jürgen Habermas meinte, als er Anfang der 80er Jahre feststellte, dass das erfolgreiche System von Administration und Ökonomie die Lebenswelt kolonialisiert habe und für ihre Zwecke ausbeutete. Die langsame Transformation der solidarischen Krankenbehandlung in einen wettbewerblichen Gesundheitsmarkt schien mir paradigmatisch für diese Entwicklung
Zuerst hoffte ich, dass, woran auch Habermas festhielt, mit guter Übersetzung eine Verständigung der unterschiedlichen Ansätze möglich sei, weil ich dachte, dass alle, wenn sie auch verschiedene Sprachen sprechen und verschieden denken, doch letztlich das gleiche Ziel verfolgen würden: das gesellschaftliche Wohl als gemeinschaftliches Gut. Aber ich begann langsam einzusehen, dass das ein frommer Glaube ist, der nicht in Erfüllung gehen wird.
Auf dem Ersten Saarländischen Psychotherapeutentag eröffnet sich mir plötzlich eine andere Sicht. Zum ersten Mal realisierte ich, dass Gesundheitspolitik zu einem bevorzugten Bereich neoliberalen Wirtschaftens geworden war. Die systematische Transformation der ehemals solidarischen Krankenbehandlung in einen freien Gesundheitsmarkt, der von traditionellen Rücksichten schrittweise entfesselt werden sollte, war eine Entwicklung, die mit Bedacht und Vorsatz in Gang gesetzt worden war. Die Finanzwelt die hatte Solidareinrichtungen als lohnende Investitionsobjekte entdeckt. (Der frühere GEO von Ford soll gesagt haben, mit dem Bau von Autos lässt sich kein Geld mehr verdienen, wir müssen in die Produktion von Gesundheit einsteigen!) Die Produktion von Gesundheit sollte marktgerecht erfolgen. Leistungsanreize sollten für Gesundheitsverhalten sorgen; Selbstbeteiligungen zu einer Senkung der Ansprüche. Schließlich sollte der Wettbewerb unter den Kostenträgern, den Leistungserbringern und den Kunden verschärft werden, um die solidarisch verträumte Verpflichtung, alle seien gleich im Anspruch, endgültig aufzubrechen. Das Wettbewerbsstärkungsgesetz im Gesundheitswesen schließt diese Entwicklung ab.
Mir wurde langsam klar, dass es sich hier nicht nur um die Transformation eines „Versorgungsbereiches“ handelte, sondern dass ein Umbau der gesamten Gesellschaft in Gang war. Es handelt sich um das neoliberale Programm des „New Public Management“, das von ultralibertären Politkern entworfen, von Margret Thatcher und Ronald Reagan, und von eher sozialdemokratischen Politikern, wie Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder unter dem Vorwand oder im Glauben an eine Alternativlosigkeit des Erhalts einer finanzierbaren Versorgung durchgesetzt worden war. Wobei die Frage der Finanzierbarkeit ganz unter dem Gebot der globalen Wettbewerbsfähigkeit stand.
Weil ich mich nicht einfach damit abfinden wollte, dass gemeinschaftliche zwischenmenschliche Belange nur noch in finanzieller Effizienz- und Effektivitätslogik abgehandelt werden, um Kosten zu senken - was nie eintrat, denn die Kosten stiegen weiter, stattdessen gab es eine stetige Verschiebung der Gewinne - verlor ich den Glauben an die kommunikative vernünftige Lösung, an der Habermas festhielt, und neigte eher zur Position von Jean-Francoise Lyotard, der ebenfalls den Befund des Auseinandertretens von System- und Lebenswelt, von Effektivitäts- und Sinnlogik festgestellt hatte, aber diesen Konflikt als einen „Widerstreit“ verstand, der nicht unter Berufung auf irgendeinen idealen Diskurs zu heilen sei, sondern dessen Faktizität nur festzustellen, zu bezeugen ist, um ihn zu einer politischen Agenda zu machen, die politisch entschieden werden muss.
Ich wollte es nicht beim Bezeugen des Widerstreites belassen, weil das Auseinandertreten politisch gewollt und zu verantworten ist. Ich fühlte mich verpflichtet, politisch Stellung zu nehmen und zumindest die Vertreter der Heilberufe, von denen ich annehmen durfte, sie seien ebenfalls dem Gemeinwohl verpflichtet, für politische Aktionen zu gewinnen, was mir in Grenzen gelang (bei einigen waren die wirtschaftlichen Bindungen gewichtiger!). Gleichzeitig begann ich, mich mit der Geschichte des Neoliberalismus zu beschäftigen, dessen Siegeszug als gesellschaftliches Modell und Denkform Ende der 70er Jahre begonnen hatte und der ohne allgemeine politische Diskussion und das heißt auch ohne politische Willensbildung, quasi stillschweigend, vollzogen worden war.
Das Marktdenken hatte sich als Garantie gesellschaftlicher freiheitlicher Organisation durchgesetzt. Es schien legitimiert durch die Zwänge und das Ungenügen totalitärer Gesellschaften, die nie wieder zurück kommen sollten, deren „Knechtschaft“ in jeder Betonung von Solidarität und Gemeinwohl lauerte. Der Markt sollte herrschen und niemand sonst. Er sollte letzte Instanz sein, ein Markt, der besonders gegen staatliche, politische Übergriffe zu schützen sei und oberste Instanz politischen Handelns sein sollte. Die „Politik“ sollte sich raushalten; Freiheit als Freiheit von politischer Einflussnahme, zugleich eine Entmündigung von Politik. 
Die Implikationen dieser neuen Ideologie, die sich als nüchterne Ansicht der Gegebenheiten verstand und maskierte, der letzt-verbliebenen Heilslehre des Ökonomismus, schienen mir höchst fragwürdig. Hauptsächlich der zugrunde liegende autistische Homo Ökonomikus, der als einziger in einer wettbewerblichen Gesellschaft bestehen kann, schien und scheint mir mit den Grundannahmen der Psychoanalyse und mit meiner Lebenserfahrung  nicht vereinbar. Eine psychoanalytische Kulturkritik, ausgehend von der ökonomistischen Transformation dem Gemeinwohl verpflichteter gesellschaftlicher Einrichtungen in wettbewerbliche Institutionen schien und scheint mir unerlässlich.
Mittlerweile machte ich Erfahrungen im kleinen Bereich der, wie ich es genannt habe, Politik-“Vollstreckung“. In einer Zeit der chronisch klammen Kassen aller Regierungsstellen hatte sich unter dem Regime des New Public Management die Effizienz- und die Effektivitätslogik bei der Planung politischer Maßnahmen durchgesetzt. Gesundheitspolitische Maßnahmen, die erwogen wurden, z.B. im Bereich der Prävention, unterlagen zuallererst strengen Effektivitäts- und Effizienzkontrollen Damit solle eine Qualitätssicherung der Politik gewährleistet werden.  Qualitätssicherung bestimmte zunehmend das Denken und Planen, beanspruchte aber zugleich große Summen an Geld. Eine Logik der kurzfristigen Zielvorgaben und kleinteiligen Ergebnisse setzte sich durch, weil diese in den kurzen Haushaltszyklen darstellbar sind und so haushälterisch gerechtfertigt werden können. So wird Politik zu einer Politik kleinschrittiger Versprechung und kurzfristiger Zielvereinbarung.
Große Entwürfe, die Vision einer gesunden Gesellschaft und die Frage, wie sie zu erreichen sei, scheiterten an dem Argument, dass es unzulässig sei, auf den Markt Einfluss zu nehmen. So war z.B. die Frage, ob das beklagenswerte Übergewicht von Jugendlichen und Kindern nicht mit gesellschaftlichen Maßnahmen zu bekämpfen sei, unmöglich zu bedenken, weil man ja nicht in die Freiheit der Kunden, d.h. der Kinder, die TV-beworbene Süßigkeiten kaufen, Coca-Cola trinken oder zu McDonald gehen, eingreifen könne. Selbst die Frage, ob man wie in Australien ansatzweise versucht worden war, die Werbung für solche gefährlichen und krankmachenden Produkte hoch zu besteuern, um die nachweisbaren Folgekosten damit zu finanzieren, war in dem Bereich, in dem ich mich bewegte, ein unmöglicher Gedanke, was man mir öfters zu verstehen gab. So war und ist Gesundheitspolitik alternativlos ein Marktgeschehen. Gesundheit entsteht im qualitätsgesichertes Herstellen von marktgerechten Angeboten. Gesundheit und Krankheit sind frei wählbar, höchstens über Risikobeteiligung an Folgekosten zu steuern, die der zu leisten hat, der Präventionsmaßnahmen nicht in Anspruch nimmt und kein vernünftiges Gesundheitsverhalten zeigt.
Im Laufe der Zeit tauchte ein anderes Thema auf, das mich in als Psychoanalytiker äußerst befremdete. Das Thema der Internettherapie, die zuerst unter Berufung auf Psychoanalyse, denn auch dort redet man ja nicht direkt mit den Menschen, angepriesen wurde. Man versuchte mir verständlich zu machen, dass eine Ferntherapie über Internet dem Ideal analytischen Handelns entspreche.
Die Internettherapie wurde einerseits von Psychologen und Psychotherapeuten vorangetrieben, die ganz in der Effektivitäts- und Effizienzlogik befangen sind. Ihre Befunde sind immer nur zielgenaue Messungen von wünschenswerten Ergebnissen mit genau ausgelesenen, auf ihre Zwecke hin abgestimmten Erfassungsinstrumente: Das Umfeld und die Nebenwirkungen solcher Therapien, überhaupt die Einführung solcher Therapien in die sogenannte Gesundheitsversorgung, sprich Krankenbehandlung, wurde nirgendwo bedacht. Es ist andererseits ein großes Geschäft für die Datenindustrie, das hohe Gewinne abzuwerfen verspricht. So treten auf den Kongressen zur Internettherapie immer auch Gesundheitsleistungserbringer wie IBM und SAP auf, sie sich schon bei der Einführung der E-Gesundheitskarte mit einigen anderen Gesundheitsplayern zur politisch wirksamen Gruppe “betIT4betHealth“ zusammen geschlossen hatten.
Über die Einarbeitung in diese Problematik kam ich langsam darauf, dass Lyotard in seiner berühmten Arbeit über die „Condition postmodern“ ja nicht nur den Widerstreit zwischen Wirtschaft und Computerismus gegen Lebenswelt und Sinnlogik der Aufklärung festgestellt hatte, sondern dass er auch das Aufkommen einer Datokratie vorhersagt hatte. Dieses Denken, das Lyotard 79/80 zum ersten Mal skizzierte, hat sich in den Köpfen festgesetzt. Deswegen gibt und gab es dazu keine denkbare Alternative mehr. Politik geschieht in ökonomischer Effizienz- und Effektivitätslogik mit genau vorher festgelegten Parametern, an denen sie gemessen werden kann, während Sinnfragen und Lebensfragen keine Rolle spielen.
Zu allem dem, so gab man mir oft zu verstehen, gibt es keine Alternative. Dieses Denken hat sich durchgesetzt, weil es sich bewährt hat. Dieses Denken ist so erfolgreich, dass es keine Alternative zu ihm gibt. Ich kam mir oft wie ein Idiot vor, im Sinne von Byung Chul Han, einer der nicht kapieren will, was alle meinen und der deshalb außerhalb steht.
III
Die postmoderne Transformation der Gesellschaft ist wesentlich durch den Digitalismus beschleunigt worden. Der digitale Ökonomismus hat sich durchgesetzt und die an Lebenswelten gebundenen Sinnkontexte haben sich in einen aggressiven Globalismus aufgelöst. Globalismus als Marktgeschehen unterscheidet sich von der Globalisierung als Weltbürgertum. Die Administration als gemeinschaftlich öffentliche Verwaltung steht der privaten Wirtschaft nicht mehr regulierend gegenüber. Die Administration ist selbst zu einem Wirtschaftszweig geworden und bedient sich der gleichen Logik. Selbst Politik ist zu einem Marktgeschehen worden. Der bekannte Gesundheitsökonom Peter Oberender beklagte, dass Politiker noch nicht begriffen haben, dass sie sich auf einem freien Wählermarkt bewegen, dass sie politische Macht wie ein Produkt verstehen sollten und dass sie selbst Produkte dieses Marktes seien.
Daraus ist zu entnehmen, dass „Politik“, was immer das ist, die Logik des Marktes vollstreckt. Man muss sich fragen, wo das Bedenken des Sinnes geblieben ist. Wo gibt es noch ein Nachdenken über das Leben im politischen Geschäft? Das wäre eine wirkliche Alternative zu dem, was heute an Politik zu beobachten ist.
Im Zusammenhang mit der Besinnung auf Gewinne und Verluste der Wiedervereinigung habe ich Anfang des Jahres vom Verlust der Alternative gesprochen. Ich habe die Alternative metaphorisch als Schatten bezeichnet, der uns verloren gegangen ist. Eine Metapher die Chamisso, der Deutsch-Franzose oder französische Deutsche verwendet hat. Der Verlust des Schattens scheint mir in der Situation nach dem Sieg des Neoliberalismus Hayek ´scher und Friedman ´scher Prägung ein nicht zu leugnender Befund. Die als letzte Heilslehre auftretende Ideologie hat sich erfolgreich durchgesetzt, ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden, so dass sie nicht mehr sichtbar ist. Dass sie sich im ideologischen Wettstreit behauptet hat, gilt ihr als genügender Wahrheitsbeweis, denn sie hat im Darwinismus, besonders im wettbewerblichen Sozialdarwinismus einen ihrer wesentlichen Ursprünge. So wird sich diese Entwicklung der Entsolidarisierung und Entpolitisierung weiter durchsetzen (W. Fach schreibt von der Rückkehr der Gladiatoren). Wegen ihrer anti-psychologischen, anti-sozialen und anti-psychoanalytischen Tendenz wird es kaum gelingen, den verlorenen Schatten, das gesellschaftliche Unbewusste dieser Entwicklung wieder zu gewinnen und in Blick zu bekommen.
Schon Chamisso fand keine Lösung. Nach dem sich Schlemihl dem Teufel verschrieben hatte, der mit allem Geld der Welt alle materiellen Wünsche erfüllen kann und sich über alle Grenzen hinweg blitzschnell bewegt, so dass er nirgendwo mehr zur Besinnung kommen kann (hierin kann man unschwer eine Charakterisierung des HFT erkennen), gelingt es Schlemihl nicht mehr, in einer Welt erfüllter Zwischenmenschlichkeit Halt zu machen und in sie zurückzufinden. Trotz aller materiellen Güter bleibt er ein elender, einsamer und unglücklicher Mensch, der sich nach seinem Schatten zurücksehnt, den er um den Preis seiner Seele wieder bekommen könnte, worauf er nicht eingehen kann, denn dann wäre er ewig verloren.
Ich will nicht zu früheren Verhältnissen zurück, sondern möchte das Politische wieder freilegen, d.h. Optionen gewinnen, die sich im Nachdenken über die Entwicklung, die nicht zwangsläufig war sondern willentlich in Gang gesetzt worden ist, ergeben. Wir zurück  bedenken, um die Zukunft freizulegen. Dazu ist es notwendig, das gesellschaftliche Unbewusste zu entdecken. Denken zu lernen gegen das Selbstverständliche, was nie einfach ist.
Politik manifestiert sich heute subjektiv. Nicht die da oben entscheiden und machen sowieso, was sie wollen. Die Rede von der Politik als Kaste, System oder isoliertem Machtbereich ist nicht zutreffend. Politik vollzieht sich in intermediären Bereichen zwischen öffentlichen und privatwirtschaftlichen Institutionen, was man an Gremien wie der Troika sehen kann (Joseph Vogel hat das 2015 historisch abgeleitet). Politik wirkt zum Simulakrum der Macht, wie das Politainement zeigt (Thomas Meyer hat das 2015 dargestellt). Darstellung, Inszenierung und Vollstreckung sind nicht mehr voneinander zu unterscheiden. So wird ein vielleicht beiläufiges Wort, wie „Wir schaffen das schon“, scheinbar zu einem politischen Programm und in Folge zu einem politischen Problem. Was ein Politikdarsteller macht und denkt, ist nicht von Bedeutung, er / sie muss Härte, Verständnis, Sachverstand zeigen, darauf alleine kommt es an. Postmoderne Politik ist in das Subjekt eingedrungen, das zeigt sich in dem, was Foucault in seinem Spätwerk die Gouvernementalität genannt hat und Byung Chul Han in Verlängerung seiner Gedanken die Psychopolitik genannt hat.
In diesen Formen des „Regierens“ ohne dass eine äußere Macht Gewalt ausübt, sind die freien Individuen gehalten, sich in einem System zu bewegen, zu dem sie keine Alternative mehr denken können, dessen Implikationen sie nicht erkennen und dessen Funktionieren zwar scheinbar allen Vorteile bringt, aber letztlich dem eigenen Zweck dient. Die Individuen im System können nicht mehr anders denken. Warum sollten sie auch, denn es geht ihnen gut. Dabei hat das System das Denken usurpiert und die Selbstkonstruktion der Individuen zu einem Unternehmen gemacht, dessen Vorteile sie genießen, in das sie investieren, damit es Gewinne abwirft. Das ist das Ende der Entwicklung, die Lyotard mit dem Aufkommen der Datokratie, des Computers und der damit verbundenen Ökonomisierung aller Lebensbereiche klar vorausgesehen hat. Die sinnvolle Lebenswelt droht gänzlich unterzugehen.
Hier ist Psychoanalyse gefordert!

----------------------------------------------------------------------------------------------------


Was ist eigentlich Transkulturalität?
erschienen in: Bielefeld: Transkript Verlag (2010), 39-66. Wolfgang Welsch
 
Wir Menschen sind wesentlich Kulturwesen. Das gilt individuell wie gesellschaftlich. Zum Heranwachsen der Individuen gehört die Hervorbildung kultureller Fähigkeiten und das Hineinwachsen in eine Kultur. Und diese Kultur fußt ihrerseits auf einer langen, im Verlauf der Menschheitsgeschichte erfolgten kulturellen Evolution, die von der Beherrschung des Feuers über die Gründung von Städten bis hin gehört zur Erfindung des Internets reicht.
Nun hat der Kulturbegriff mindestens zwei Dimensionen, und ich rate, diese zu unterscheiden.
Da ist zunächst die inhaltliche Bedeutung von Kultur, wo ‛Kultur’ als Sammelbegriff für diejenigen Praktiken steht, durch welche die Menschen ein menschentypisches Leben herstellen.
Diese inhaltliche Bedeutung umfasst Alltagsroutinen, Kompetenzen, Überzeugungen, Umgangsformen, Sozialregulationen, Weltbilder und dergleichen. Zweitens haben wir aber, von ‛Kultur’ sprechend, in den meisten Fällen auch eine geographische oder nationale oder ethnische Extension dieser Praktiken im Sinn. ‛Kultur’ bezieht sich hier auf die Ausdehnung derjenigen Gruppe (oder Gesellschaft oder Zivilisation), für welche die betreffenden kulturellen Inhalte bzw. Praktiken charakteristisch sind.
Nun rate ich, die erste, die inhaltliche, und die zweite, die extensionale Bedeutung von ‛Kultur’ nicht wie selbstverständlich zu amalgamieren, sondern unterschieden zu halten. Gemeinhin neigen wir zur Verschleifung: wir denken bei ‛Kultur’ sogleich einen nationalen oder ethnischen Geltungsbereich mit, ja die extensionale Bedeutung hat meistens sogar die Führung vor der inhaltlichen Bedeutung. Es gibt aber auch Gegenbeispiele: Wenn wir einen Menschen
‛kultiviert’ nennen, dann meinen wir, dass er hochstehende Umgangs- und
Kommunikationsformen hat, ganz gleich nach den Standards welcher Kultur er kultiviert ist, hier steht allein die inhaltliche Bedeutung von ‛Kultur’ und deren Erfüllung im Blick.
Die begriffliche Revision, die das Konzept der Transkulturalität vorschlägt, bezieht sich nun vor allem auf die zweite, auf die extensionale Bedeutungsdimension von ‛Kultur’. Es rät, diese Extension anders zu verstehen als traditionell. Nämlich nicht mehr nach dem alten Modell klar gegeneinander abgegrenzter Kulturen, sondern nach dem Modell von Durchdringungen und
Verflechtungen. Und zwar deshalb, weil Kultur heute – so die Behauptung – de facto derart permeativ und nicht separatistisch verfasst ist.
Darauf will das Konzept der Transkulturalität das Augenmerk lenken, dieser Verfassung will es gerecht werden. Als ich vor bald 20 Jahren anfing, dieses Konzept zu entwickeln, trieb mich der Eindruck an, dass unser herkömmlicher Kulturbegriff auf seinen Gegenstand, die heutigen Kulturen, schlicht nicht mehr passt. Die zeitgenössischen Kulturen schienen mir eine andere Verfassung angenommen zu haben, als die althergebrachten Vorstellungen von Kultur noch immer behaupteten oder suggerierten. Insofern galt es, eine neue Konzeptualisierung von ‛Kultur’ zu erarbeiten. ‛Transkulturalität’ will den heutigen kulturellen Verhältnissen gerecht werden.

I. Das traditionelle Kugelmodell der Kultur
Am überkommenen Kulturverständnis – wie es gegen Ende des 18. Jahrhunderts maßgeblich durch Herder geprägt wurde – ist insbesondere die extensionale Bestimmung von Kultur zu kritisieren. Kulturen werden nach dem Modell von Kugeln verstanden. So erklärt Herder paradigmatisch: "jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!" Zu diesem Kugelmodell gehört ein internes Homogenitätsgebot und ein externes Abgrenzungsgebot. Im Innenbezug soll die Kultur das Leben eines Volkes im ganzen wie im einzelnen prägen und jede Handlung und jedes Objekt zu einem unverwechselbaren Bestandteil gerade dieser Kultur machen; Fremdes ist in dieser Konzeption minimiert. Und im Außenbezug gilt strikte Abgrenzung: Jede Kultur soll, als Kultur eines Volkes, von den Kulturen anderer Völker spezifisch unterschieden und distanziert sein. Herder: "Alles was mit meiner Natur noch gleichartig ist, was in sie assimiliert werden kann, beneide ich, strebs an, mache mirs zu eigen; darüber hinaus hat mich die gütige Natur mit Fühllosigkeit, Kälte und Blindheit bewaffnet; sie kann gar Verachtung und Ekel werden". Das Kugelideal verfügt also im gleichen Zug inneren Homogenisierungsdruck und äußere Abgrenzung (bis hin zu expliziten Formen der Feindseligkeit). Diese beiden Züge sind vom Kugelmodell logisch nicht zu trennen, sondern notwendig mit ihm verbunden. Kulturen, die wie Kugeln aufgefasst sind, können nicht wirklich miteinander kommunizieren, etwa einander durchdringen, sondern können, wie Herder das ganz treffend formuliert hat, einander nur "stoßen". Das ist die Crux des Kugelkonzepts der Kulturen: Kulturen, die im Stil von Kugeln verfasst oder verstanden sind, müssen einander abstoßen und bekämpfen.
Wären die zeitgenössischen Kulturen also tatsächlich kugelartig verfasst, dann ließen sich die Schwierigkeiten ihrer Koexistenz und Kooperation – bei allen gutgemeinten Bemühungen – aus systematischen Gründen nicht loswerden oder lösen.
Aber mein Punkt ist, dass die Beschreibung zumindest heutiger Kulturen als Kugeln deskriptiv falsch ist. Unsere Kulturen haben de facto längst nicht mehr die Form der Homogenität und Separiertheit, sondern sie durchdringen einander, sie sind weithin durch Mischungen gekennzeichnet. Diese neue Struktur suche ich durch das Konzept der ‛Transkulturalität’ zu fassen. ‛Transkulturalität’ will, dem Doppelsinn des lateinischen trans- entsprechend, darauf hinweisen, dass die heutige Verfassung der Kulturen jenseits der alten (der vermeintlich kugelhaften) Verfassung liegt und dass dies eben insofern der Fall ist, als die kulturellen Determinanten heute quer durch die Kulturen hindurchgehen, so dass diese nicht mehr durch klare Abgrenzung, sondern durch Verflechtungen und Gemeinsamkeiten gekennzeichnet sind. Es geht mir um ein Kulturkonzept, das auf die Verhältnisse des 21. Jh. zugeschnitten ist. Das neue Leitbild sollte nicht das von Kugeln, sondern das von Geflechten sein.
 
II. Transkulturalität
Ich will nun einige Hauptaspekte dieses Konzepts umrisshaft darstellen. Ich beginne mit der gesellschaftlichen Makroebene. Was diesbezüglich festzustellen ist, forderte vor 20 Jahren noch massiven Widerspruch heraus, heute ist es (auch angesichts der Globalisierung) nahezu selbstverständlich geworden.

1. Makroebene: der veränderte Zuschnitt heutiger Kulturen
a. Externe Vernetzung und interner Hybridcharakter der Kulturen
Zeitgenössische Kulturen sind extern denkbar stark miteinander verbunden und verflochten. Die Lebensformen enden nicht mehr an den Grenzen der Einzelkulturen von einst (der vorgeblichen Nationalkulturen), sondern überschreiten diese, finden sich ebenso in anderen Kulturen. Die Lebensform eines Ökonomen, eines Wissenschaftlers oder eines Journalisten ist nicht mehr einfach deutsch oder französisch, sondern – wenn schon – europäisch oder global geprägt. Und intern sind zeitgenössische Kulturen weithin durch Hybridisierung gekennzeichnet. Für jedes Land sind die kulturellen Gehalte anderer Länder tendenziell zu Binnengehalten geworden. Das gilt auf der Ebene der Bevölkerung, der Waren und der Information: Weltweit leben in der Mehrzahl der Länder auch Angehörige aller anderen Länder dieser Erde; immer mehr werden die gleichen Artikel (wie exotisch sie einst auch gewesen sein mögen) allerorten verfügbar; zudem machen die elektronischen Kommunikationstechniken quasi alle Informationen von jedem Punkt aus identisch verfügbar.
Derlei Veränderungen sind eine Folge von weltweiten Verkehrs- und Kommunikationssystemen sowie des globalen Kapitalismus. Die Neuerungen sind von den Menschen nicht auf freien Stücken erfunden, sondern sind ihnen in etlichen Fällen durch Macht, ökonomische Abhängigkeit, Ungleichverteilung, Migrationsprozesse usw. aufgezwungen worden. Deskriptiv aber muss man sie, auch wenn man die Ursachen für anstößig hält, zur Kenntnis nehmen. Im Übrigen werden wir sehen, dass die Veränderungen auch einige normativ positive Implikationen aufweisen.

b. Vieldimensionalität des Wandels
Nun ist es wichtig zu sehen, dass die neuartigen Durchdringungen und Verflechtungen der Kulturen nicht nur – wie fälschlicherweise oft behauptet wird – die Konsumkultur (McDonald’s, Coke, etc.), sondern sämtliche kulturellen Dimensionen betreffen, dass sie von den täglichen Routinen bis hin zur Hochkultur reichen. Beispielsweise wird die Medizin zunehmend transkulturell: in den asiatischen Ländern dringt die westliche Medizin vor, und im Westen greift man zunehmend zu Akupunktur, Quigong und Ayurveda. Oder in der Popkultur ist eine nationale Zuordnung der Stars längst anachronistisch geworden. Die Spice Girls wurden in Deutschland nicht weniger frenetisch gefeiert als in Großbritannien, und nachdem David Bowie oder Michael Jackson berühmt geworden waren, konnte man ihren Zwillingen überall auf der Welt begegnen. (Damit verglichen, ist der "Eurovision Song Contest" mit seiner Anstachelung nationaler Emotionen hoffnungslos atavistisch.) Oder man denke an die großen Fußballklubs: vor dreißig Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass die Spieler überwiegend aus anderen Ländern, ja von anderen Kontinenten kommen, heute ist das an der Tagesordnung – und die Fans haben damit keine Schwierigkeiten mehr, sondern geraten in Euphorie, wenn es ihrem Heimatklub gelingt, den Welt-Topspieler aus Südamerika zu verpflichten. Selbst bei Nationalmannschaften ist die transkulturelle Mischung inzwischen unverkennbar. Wenn ein Nicht-Experte vor dem Aufeinandertreffen der deutschen und der italienischen U-21-Auswahl Spielernamen wie Dejagah, Castro, Boateng, Aogo, Khetira und Özil hört, dann wird er vermutlich tippen, dass es sich dabei um Spieler nicht der deutschen, sondern der gegnerischen Mannschaft handelt; auch bei einem Namen wie Marco Marin wird er sich darin bestätigt fühlen; aber wenn dann diese in der Tat deutsche Auswahl den Favoriten Italien mit 1:0 besiegt, dann wird er sich mit all diesen Jungs freuen und auf sie stolz sein.
Viele Formen des Alltags sind heute international geprägt: deutsche Studierende duzen einander, während früher das förmliche ‛Sie’ angezeigt war; nicht nur die Restaurantszene, auch die häuslichen Speisezettel sind inzwischen international geworden; und bei technischen Innovationen sind nationale Unterschiede schon lange irrelevant geworden. Und Michael Jackson hat in seinem berühmten Video "Black or White" von 1991 selbst transkulturelle Verwandlungen inszeniert: er wandert dort durch verschiedene Kulturen (afrikanische, südostasiatische, indianische, indische, russische Kultur), und Individuen verwandeln sich durch Morphing ineinander (von Mann zu Frau, von Weiß zu Schwarz, von asiatisch zu afrikanisch usw.). Ebenso ist in der ‛hohen’ Kultur die Mischung evident: Theaterpraktiken verbinden heute klassisch-europäisches Sprechtheater mit Kabuki und Ritualen der First Nation People. Die Entwicklung des Modern Dance war seit langem durch eine Kombination europäischer, amerikanischer und asiatischer Elemente gekennzeichnet. Und wer häufig Konzerte besucht, empfindet so unterschiedliche Musiken wie die von Mozart und Mahler, Ives und Bernstein oder Debussy und Takemitsu als Teil seiner Identität. Schließlich wirkt sich die zeitgenössische kulturelle Durchdringung – die Transkulturalisierung – auch auf Grundfragen des individuellen und gesellschaftlichen Selbstverständnisses aus. Identische Problem- und Bewusstseinslagen treten heute in den angeblich so verschiedenen Kulturen auf – man denke etwa an Menschenrechts-Diskussionen, an die feministische Bewegung oder das ökologische Bewusstsein. Sie stellen mächtige Wirkfaktoren quer durch die verschiedenen Kulturen dar. Dem alten Kulturmodell und seiner Differenz-Fiktion zufolge wäre dergleichen ganz unmöglich – was umgekehrt die Obsoletheit dieses Modells zeigt.

2. Mikroebene
a. Transkulturelle Prägung der Individuen
Transkulturalität dringt aber nicht nur auf der gesellschaftlichen Makroebene, sondern ebenso auf der individuellen Mikroebene vor. Dies ist im allgemeinen Bewusstsein unterbelichtet, mir aber besonders wichtig. Die meisten unter uns sind in ihrer kulturellen Formation durch mehrere kulturelle Herkünfte und Verbindungen bestimmt. Wir sind kulturelle Mischlinge. Die kulturelle Identität der heutigen Individuen ist eine patchwork-Identität. Da heutige Heranwachsende schon alltäglich mit einer weitaus größeren Anzahl kultureller Muster bekannt werden als dies in der Elterngeneration der Fall war – man trifft schlicht auf der Straße, im Beruf, in den Medien mehr Menschen mit unterschiedlichem kulturellem und ethnischem Hintergrund als zuvor –, können sie bei ihrer kulturellen Identitätsbildung eine Vielzahl von Elementen unterschiedlicher Herkunft aufgreifen und verbinden. Das betrifft nicht etwa nur Migranten, sondern alle Heranwachsenden. Die Alternativen zum Standard von einst liegen heute nicht mehr außer Reichweite, sondern sind Bestandteil des Alltags geworden. Heutige Menschen werden zunehmend in sich transkulturell.
Innere Pluralität hat bei exquisiten Subjekten gewiss früher schon bestanden. Novalis erklärte, dass eine Person "mehrere Personen zugleich ist", weil "Pluralism [...] unser innerstes Wesen" ist, Walt Whitman verkündete "I am large ... I contain multitudes", und Ibsens Peer Gynt entdeckt, als er seine Identität erforscht, eine ganze Reihe von Personen in sich: einen Passagier, einen Goldgräber, einen Archäologen, einen Propheten, einen Bonvivant usw. – so wie er auch äußerlich ein Wanderer zwischen unterschiedlichen Ländern und Kulturen ist: zwischen seiner norwegischen Heimat und Marokko, der Sahara und Ägypten, dem Atlantik und dem Mittelmeer und zahlreichen mythischen Orten. Peer Gynt ist eine geradezu paradigmatische Figur der Transkulturalität. Er repräsentiert den Übergang vom alten Ideal der Person als Monade (kugelartig, monolithisch wie das alte Konzept der Kulturen) zur neuen Seinsweise des Nomaden, des Wanderers zwischen verschiedenen Welten und Kulturen – ein kleiner Buchstabentausch, und alles ist anders. Was einst nur für exquisite Subjekte gegolten haben mag, scheint heute zunehmend zur Wirklichkeit von jedermann zu werden. Dabei handelt es sich nicht einfachhin um einen Export westlicher Vorstellungen, sondern es kommt ebenso rückwirkend zu Modifikationen: Die Bejahung des Eigentums beispielsweise, von der indische Frauenrechtlerinnen gesagt haben, dass sie eine unabdingbare Voraussetzung ihrer Emanzipation darstellt, hat manche westliche Kritiker des Privateigentums umzudenken veranlasst. – Ich verdanke diesen Hinweis Martha C. Nussbaum. So betont auch die US-amerikanische Politologin Amy Gutmann, dass heute "die Identität der meisten Menschen – und nicht bloß die von westlichen Intellektuellen oder von Eliten – [...] durch mehr als eine einzige Kultur geformt" ist. "Nicht nur Gesellschaften, auch Menschen sind multikulturell".
Die interne Transkulturalität der Individuen scheint mir der entscheidende Punkt zu sein. Man sollte nicht nur davon sprechen, dass heutige Gesellschaften unterschiedliche kulturelle Modelle in sich befassen ("cultural diversity"), sondern das Augenmerk darauf richten, dass die Individuen heute durch mehrere kulturelle Muster geprägt sind, unterschiedliche kulturelle Elemente in sich tragen.

b. Interne Transkulturalität erleichtert den Umgang mit externer Transkulturalität
Die innere Transkulturalität der Individuen befähigt diese nun zugleich, mit der äußeren Transkulturalität besser zurechtzukommen. Denn ein Individuum, in dessen Identität eine ganze Reihe kultureller Muster Eingang gefunden hat, besitzt bezüglich der Vielzahl kultureller Praktiken und Manifestationen, die sich in seiner gesellschaftlichen Umwelt finden, größere Anschlusschancen, als wenn die eigene Identität nur durch ein einziges Muster bestimmt wäre. Man kann an mehr Phänomenen Interesse finden, mit einer größeren Anzahl sich verbinden – die plug-in-Rate ist höher. Das betrifft natürlich auch die direkte Kommunikation von Individuum zu Individuum. Denn aus je mehr Elementen die kulturelle Identität eines Individuums zusammengesetzt ist, umso wahrscheinlicher ist es, dass eine Schnittmenge mit der Identität anderer Individuen besteht, und von daher können solche Individuen bei aller sonstigen Unterschiedlichkeit in weit höherem Maß als früher in Austausch und Kommunikation eintreten, sie können bestehende Gemeinsamkeiten entdecken und neue entwickeln, sie werden in der Begegnung mit "Fremdem" eher in der Lage sein, statt einer Haltung der Abwehr Praktiken der Kommunikation entwickeln. Darin liegt einer der großen Vorteile des Übergangs zu Transkulturalität.
Um ein Beispiel zu geben: Diane Ravitch, eine amerikanische Kritikerin des Multikulturalismus, berichtet von einer schwarzen Läuferin, die in einem Interview sagte, ihr Vorbild sei Michail Baryschnikov; sie bewundere ihn, weil er ein großartiger Athlet sei. Diane Ravitch kommentiert dies folgendermaßen: Michail Baryschnikov "ist nicht schwarz; er ist keine Frau; er ist kein gebürtiger Amerikaner; er ist nicht einmal ein Läufer. Aber er inspiriert sie durch die Art, wie er seinen Körper trainiert und eingesetzt hat."
In der Tat: dem alten Kasten- und Gruppendenken zufolge wäre die Vorbildwahl dieser Läuferin gleich mehrfach unmöglich, denn sie hält sich nicht an die Vorgaben des Geschlechts, der Hautfarbe, der Nationalität und des Berufs. Aber wenn man die Scheuklappen dieses Abgrenzungsdenkens einmal hinter sich gelassen hat, dann wird eine solche Wahl ganz selbstverständlich möglich. Transkulturalität befreit zu eigenen Wahlen jenseits gesellschaftlich vorgegebener Schemata.

III. Ergänzungen
1. Das Transkulturalitätskonzept im Verhältnis zu den Konzepten der Multikulturalität und der Interkulturalität
Verschiedentlich wird das Transkulturalitätskonzept mit den Konzepten der Multikulturalität und der Interkulturalität in Verbindung gebracht. Oft werden die entsprechenden Ausdrücke geradezu synonym verwendet. Aus der Sicht meines Transkulturalitätskonzepts bestehen jedoch große Unterschiede. Die Konzepte der Multi- und der Interkulturalität halten noch immer am alten Kugelmodell fest. Der Unterschied zwischen beiden ist nur, dass die Multikulturalisten dies im Blick auf Verhältnisse innerhalb von Gesellschaften, die Interkulturalisten hingegen im Blick auf die Verhältnisse zwischen Gesellschaften tun. Das Kugelmodell ist dann aber auch für die Defizite beider Konzepte verantwortlich. Der Multikulturalismus sieht die Partialkulturen innerhalb einer Gesellschaft noch immer wie Kugeln oder Inseln an und befördert dadurch tendenziell Ghettoisierung. Darin schlägt die Erblast des antiquierten Kulturverständnisses durch – Kugelkulturen haben das Ghetto nicht zum Negativbild, sondern zum Ideal. Das Konzept der Interkulturalität geht ebenfalls weiterhin von der alten Kugelvorstellung aus und ist dann bemüht, einen interkulturellen Dialog in Gang zu bringen, der zu einem gegenseitigen Verstehen zwischen den im Ansatz als hochgradig verschieden, ja inkommensurabel angesehenen Kulturen führen soll. Was dem Transkulturalitätskonzept zufolge durch die reale Entwicklung befördert wird, soll dem Interkulturalitätskonzept zufolge durch hermeneutische Bemühungen geleistet werden. In Wahrheit aber ist die heutige Hermeneutik dafür denkbar ungeeignet, denn ihr zufolge sind Verstehensmöglichkeiten prinzipiell auf die eigene Herkunft beschränkt, während jenseits derselben nur noch ein Missverstehen (ein Ummodeln des Anderen ins Eigene) möglich sein soll: ein Deutscher könne, da er dem Kontext des Abendlandes entstammt, zwar vielleicht noch einen Altgriechen verstehen, niemals aber einen Japaner oder einen Inder, weil diese aus prinzipiell anderen Kulturtraditionen kommen (und entsprechend umgekehrt einen Abendländer allenfalls apart missverstehen können). Angesichts der langen Misserfolgsgeschichte interkulturellen Dialogs könnte man zwar den Eindruck gewinnen, dass die Hermeneutik im Recht ist, es könnte aber auch die genau umgekehrte Erklärung zutreffen: Weil die Interkulturalisten die Kulturen von Grund auf wie Kugeln konzeptualisieren, kaprizieren sie sich auf das Verstehen eines ‛Anderen’, von dem sie zugleich annehmen, dass es ob seiner Inkommensurabilität eigentlich nicht verstanden werden könne – so dass die Erfolglosigkeit des Unternehmens schlicht aus der Verfehltheit und Widersprüchlichkeit der Ausgangsvorstellung resultiert. Das Interkulturalitätskonzept verfügt durch seinen ersten Zug – die Unterstellung einer ganz anderen, eigenartigen und homogenen Verfasstheit der anderen Kulturen – die Erfolgsunmöglichkeit all seiner weiteren, auf interkulturellen Dialog zielenden Schritte. Die antiquierte Fiktion inkommensurabler Kulturen ruft den Wunsch nach interkulturellem Dialog hervor und verurteilt ihn zugleich zum Scheitern.
 
2. Transkulturalität – schon in der Geschichte
Transkulturalität ist historisch keineswegs völlig neu. Geschichtlich scheint sie eher die Regel gewesen zu sein. Viele Kulturen waren weitaus weniger rein, waren beträchtlich transkultureller, als die romantische und historistische Fiktion der Kulturkugeln das sehen mochte. Griechenland’ beispielsweise, einst zur ganz aus sich selbst sprudelnden Quelle des Abendlands stilisiert, war keinesfalls ‛rein’: ohne Ägypten und Asien, Babylonien und Phönizien ist die Entstehung der griechischen Kultur gar nicht zu verstehen. Auch das spätere
Europa war jahrhundertelang durch transkulturellen Austausch bestimmt. Man denke nur an den Warenverkehr oder an die Kunstgeschichte. Die Stile waren länder- und nationenübergreifend, und viele Künstler haben ihre besten Werke fernab der Heimat geschaffen. Albrecht Dürer, der lange als der exemplarisch deutsche Künstler galt, ist erst in Italien er selbst geworden, und er musste Venedig ein zweites Mal aufsuchen, um ganz er selber zu werden.Carl Zuckmayer hat in Des Teufels General die faktische geschichtliche Transkulturalität wundervoll beschrieben. Dies ist eine realistische Beschreibung der historischen Genese von Mitgliedern eines "Volkes". Sie löst die Homogenitätsfiktion auf. Ähnliches gilt für andere Kulturen. Beispielsweise wäre es unmöglich, die japanische Kultur ohne Berücksichtigung ihrer Verflechtungen mit der chinesischen, koreanischen, indischen, hellenistischen und der modernen europäischen Kultur zu rekonstruieren. Edward Said hat recht, wenn er sagt: "Alle Kulturen sind hybrid; keine ist rein; keine ist identisch mit einem ‛reinen’ Volk; keine besteht aus einem homogenen Gewebe." Allerdings: Auch wenn ein genauer Blick lehrt, dass historisch seit langem Transkulturalität und nicht Reinheit die Regel war, so ist doch das Ausmaß der Transkulturalität in den letzten Jahren stark angestiegen. Eine wirklich globale lingua franca hatte die Welt zuvor nicht gekannt und ebenso wenig einen weltweiten Zusammenschluss durch Informations- und Transportwesen.
Die kulturellen Durchdringungen sind heute weltweit stärker, als sie je zuvor waren.
 
3. Transkulturalisierung im Rahmen ökonomisch-politischer Machtprozesse
Natürlich spielt sich der Übergang zu Transkulturalität nicht in einem machtfreien Raum ab. Ganz im Gegenteil: Die treibenden Kräfte der Makroebene, welche Transkulturalisierung bewirken, sind weithin Machtprozesse. Es ist in erster Linie die kapitalistische Ökonomie mit ihrer globalen Erschließung materieller und humaner Ressourcen, die zu drastischen Umstrukturierungen traditioneller Verhältnisse führt, Arm-Reich-Verteilungen verändert und Migrationsbewegungen auslöst. Der Druck politischer Herrschaft und Unterdrückung tut ein Übriges. Die Identitätsbildung der Individuen erfolgt also in einem Raum, der durch mannigfache Disparitäten und Beschränkungen und oft durch Zwang, Not und Armut gekennzeichnet ist. Es ist keineswegs so, dass die Individuen die Elemente ihres Identitätsfächers gleichsam frei wählen und zusammenstellen könnten. Sie unterliegen vielmehr mannigfachen Einschränkungen und äußerem Druck. Das ist teilweise im Globalisierungsdiskurs, vor allem jedoch im postkolonialen, postfeministischen und generell im Minoritätendiskurs vielfach untersucht und dargestellt worden.
Es ist also vielfach Machtdisparitäten geschuldet, wenn die Identitäten heutiger Menschen – der Armen wie der Reichen – zunehmend transkulturell werden. Schließlich erfolgt Identitätsbildung niemals im Modus freier Wahl. Sie hat auch beim Privilegiertesten nicht die Form einfachen Shoppings. Denn eine
Begrenzung der Optionen besteht – so oder so – für jeden. Eher als einem Shopping gleicht die Identitätsbildung einer Nahrungssuche, wo man dieses oder jenes antrifft und probiert und dann jenes oder dieses behalten, mit anderem verbinden und vielleicht auch transformieren wird. Selbst drastischer Macht- und Beschränkungsdruck kann dabei nicht determinieren, wie Individuen sich entscheiden, welche Wege sie einschlagen – sonst müssten beispielsweise alle oder keiner den Weg des Widerstands gehen. Ein Spielraum besteht immer. Und einen Einbau transkultureller Elemente findet man heute in allen Populationen. Auch bei unterprivilegierten Schichten ("Prekariat") oder bei für gleichermaßen arm wie homogen angesehenen Populationen (Tibet) ist festzustellen, dass die Leute zumindest einige Elemente anderer kultureller Herkunft kennen und einige davon inkorporiert haben, also ein Stück weit transkulturell geworden sind. Insofern ist Transkulturalität zunehmend eine Realität und nicht bloß ein Wunsch. Im Unterschied dazu vertreten diejenigen ein Wunschdenken, die pauschal beklagen, dass nicht alle Menschen die gleichen Optionen haben (auch wenn dies eben wünschenswert wäre). Und vollends sophistisch verfahren diejenigen, die allenthalben böse und unterdrückende Machtstrukturen aufspüren und dabei völlig übersehen, dass ihre eigene Machtanalyse selbst ein Akt von Diskursmacht ist – dass sie selbst, während sie sich für neutrale und gutmeinende Beobachter halten, de facto Machtagenten und Machtprofiteure sind.
 
4. Uniformierung?
Und damit zurück zu Transkulturalität im allgemein-gesellschaftlichen Sinn. Die vielleicht gängigste Befürchtung lautet, dass Transkulturalität auf Uniformierung hinauslaufe. Ich halte das jedoch für falsch und denke, dass Transkulturalität eher mit einem neuen Typus von Unterschiedlichkeit verbunden ist.

a. Neuartige Diversität
Denn schon auf der Makroebene verhält es sich nicht so, dass die Gehalte anderer Kulturkreise oder des Haupttrends der Globalisierung immer 1:1 übernommen würden. Im Gegenteil: Sie werden vielfach in regionale Kulturprofile eingebunden und können dabei eine beträchtliche Umwandlung erfahren, die manchmal sogar zur verwandelten Wiederbelebung lokaler
Traditionen führt. ‛Globale Uniformierung’ ist also allenfalls eine oberflächliche Diagnose. Warum die Uniformierungsbefürchtung zudem auf der Mikroebene unzutreffend ist, kann man sich auf einfache Weise klarmachen: Wenn zwei Individuen bei ihrer Identitätsbildung jeweils auf eine Reihe von kulturellen Mustern zurückgreifen, so werden sie oftmals zwar das eine oder andere Muster gemeinsam haben, aber in anderen Hinsichten immer noch reichlich verschieden sein. Und selbst wenn zwei Individuen auf genau die gleichen kulturellen Muster zurückgreifen, werden sie diese in den meisten Fällen in einer unterschiedlichen Anordnung verbinden oder ihnen eine unterschiedliche Gewichtung geben (was für den einen an erster Stelle steht, mag für den anderen erst an dritter Stelle kommen) – so werden selbst diese Individuen deutlich verschieden sein. Unterschiede gibt es also weiterhin, nur haben sie jetzt eine andere Form als zuvor. Es handelt sich nicht mehr um Unterschiede zwischen nebeneinander stehenden Monokulturen, sondern um Unterschiede von Individuum zu Individuum oder von Gruppe zu Gruppe bei insgesamt anwachsender Gemeinsamkeit. Und die neuen Unterschiede sind von den alten Problemen der separatistischen Differenz frei. Der nostalgische Lobpreis der alten kulturellen Diversität ist ja heuchlerisch: er unterschlägt, dass das Insistieren auf ihr regelmäßig zu Ausschlüssen, Verfolgungen und Kriegen geführt hat. Dagegen arbeitet Transkulturalität der Bildung einer Weltinnengesellschaft und einer friedlicheren Weltgesellschaft zu. Und dafür, so meine ich, sollte man auch einige Verluste an kultureller Vielfalt in Kauf nehmen können. Gewiss sollte man (das wäre eine erste Korrektur am gegenwärtigen Bewusstsein) kulturellen Artenschutz höher stellen als biologischen, aber man muss auch sehen (das ist die zweite Korrektur), dass zur kulturellen Evolution stets auch der Untergang oder das nur veränderte Fortleben kultureller Gebilde gehörte, ja dass die kulturelle Evolution eben nicht von Idealen musealer Konservierung, sondern vom Druck geschichtlicher Überbietung und geschichtlichen Verschwindens lebte. Insofern verkennt die Beschwörung kultureller Diversität die Logik der kulturellen Evolution. Und die Überführung kultureller Differenz in eine Form, die der Gemeinsamkeit der Menschen nicht widerstreitet, sondern zuarbeitet, könnte durchaus als lohnende Aufgabe für Gegenwart und Zukunft begriffen werden.
 
b. Lokale Präferenzen – Versionen von Heimat
Transkulturelle Identitäten schließen lokale (regionale, nationale) Präferenzen keineswegs aus. Erstens können diese natürlich zum kulturellen Mix gehören. Und zweitens können sie sogar einen Hauptakzent darstellen. Es wird bei den transkulturellen Identitäten ja in der Regel so sein, dass manche Elemente mehr, andere weniger Gewicht haben. Ein Hauptakzent kann von Zusatzakzenten begleitet oder umspielt sein. Man kann sich das nach dem Modell von Standbein und Spielbein vorstellen. Und der Hauptakzent (das Standbein) kann durchaus lokal oder regional oder national geprägt sein. Das ist sogar innerhalb der Transkulturalität weit verbreitet. Insofern kann die alte Kulturform auch unter den neuen Bedingungen abgeschwächt nachleben. Wünschenswert ist nur, dass der Hauptakzent ein Standbein darstellt, das auch etliche Bewegungen des Spielbeins ermöglicht und zulässt, oder anders gesagt: dass dieser Haltepunkt nicht von einem Standbein zu einem Klumpfuß wird, der alle weiterreichenden Bewegungen verhindert. Im Übrigen: Vielleicht brauchen wir eine Verortung, eine Heimat. Aber Heimat muss nicht die Gegend sein, in der man aufwuchs. Man kann seine wirkliche Heimat weitab von der ursprünglichen Heimat finden. Ich sage nicht, dass dies so sein müsste, dass man Heimat nur fernab von der ersten Heimat, den anfänglichen Wurzeln finden könne. Aber ich betone, dass dies ein möglicher und anerkennenswerter Fall ist. In gewissem Sinn ist auch die erste Heimat immer nur als zweite Heimat wirkliche Heimat, erst dann nämlich, wenn man sich (angesichts auch anderer Möglichkeiten) bewusst zu ihr entschieden, sie nachträglich eigens gewählt und bejaht hat. Nur dann ist ‛Heimat’ keine naturwüchsige, sondern eine kulturelle und humane Kategorie.
 
5. Transkulturalität im Gesamtgang der Menschheitsgeschichte
Zum Schluss will ich von den Gegenwartsbetrachtungen einen Schritt zurücktreten und fragen, wie sich der Trend zu Transkulturalität im Gesamtgang der Menschheitsgeschichte ausnimmt.
Üblicherweise glauben wir, dass wir Menschen sehr verschieden sind – die Leser dieser Zeilen, die Leute in diesem Land, die Menschen auf der Welt insgesamt. Aber im Grunde sind wir alle –weltweit – erstaunlich ähnlich. Jedenfalls genetisch. Die genetischen Unterschiede zwischen den Menschen auf der ganzen Welt sind weitaus kleiner als die innerhalb einer beliebigen frei lebenden Schimpansenpopulation in Afrika, deren Verbreitung auf 40 km2
beschränkt sein mag. Das hat zwei Ursachen: Erstens ist Homo sapiens eine relativ junge Spezies. Wir stammen alle von einer afrikanischen Eva ab, die vor ca. 150 000 Jahren lebte – insofern stand für genetische Variantenbildung nur wenig Zeit zur Verfügung. Und zweitens endete dieses Zeitfenster schon vor ca. 40 000 Jahren. Bis dorthin hatte sich die menschliche Natur herausgebildet, die noch heute so ist wie damals. Bis dorthin also erstreckte sich die Periode, welche die grundlegende (genetische) Gleichheit der Menschen bewirkt hat. Dann aber begann eine zweite Periode, die nun durch Differenzbildung gekennzeichnet war – freilich durch die Bildung nicht genetischer, sondern kultureller Differenzen. Vor ca. 40 000 Jahren ging die Menschheit von der biologischen zur kulturellen Evolution über. Fortan erfolgten Anpassungsfortschritte allein auf kulturellem, nicht mehr auf biologischem Weg. Die kulturelle Evolution aber war mit einer gigantischen Produktion von Differenzen verbunden. Distinktion innerhalb der Gruppen und zwischen den Gruppen war nun der Motor der Entwicklung. Deshalb hat sich die Menschheit in ihrer kulturellen Periode in immer größere kulturelle Differenzen hineinbegeben (bis hin zu den Nationalismen des 19. u. 20. Jahrhunderts).
In der Gegenwart aber scheinen wir in eine dritte Phase einzutreten, die durch eine Ermäßigung der kulturellen Differenzen gekennzeichnet ist. Die bisher auf dem kulturellen Weg entwickelten Unterschiede beginnen Verbindungen und Durchdringungen einzugehen. Infolge der Mischung der kulturellen Muster entwickeln die Menschen nun auch kulturell wieder mehr Gemeinsamkeit als in den differenzbetonten Jahrtausenden davor. Transkulturalität scheint zu einer neuartigen kulturellen (nicht mehr nur genetischen) Gemeinschaftlichkeit der Menschen zu führen. Prognostiziert hatten eine solche Entwicklung schon Scheler mit seiner Konzeption eines "Ausgleichs" zwischen den Kulturen (1927) und Jaspers mit seinem Gedanken einer "zweiten Achsenzeit" (1949). Vielleicht kommen wir im Zeitalter der Transkulturalität tatsächlich dem alten Traum von einer "Family of Man" ein Stück näher.

 


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen