6.4.12


Sechsundfünfzig Jahre auf dieser Welt. Übermorgen. So viele Gedanken und Erinnerungen. Was mich seit gestern Nacht umtreibt: Wie muss das gewesen sein, 1956, als junge Frau mit nem Kind im Bauch, dass unehelich auf die Welt kommen würde? War da Liebe? Gab es da überhaupt Raum für Freude? Wann hat sie es der Familie gesagt? War da ein Streicheln und Summen durch die Bauchdecke hindurch?  Die Geburt? War sie da alleine? War da dann ein Willkommen, vor dem Verleugnen? Sie hat es mir nie erzählt. Ist diesen Fragen immer ausgewichen, bis zum Schluss. Es hat sehr lange gedauert, bis ich ihr sagen konnte: Ich bin gerne deine Tochter und ich danke dir dafür, dass du mich hast leben und überleben lassen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie es wirklich verstanden hat. Da war so viel elendig verwobene Scham und Schuld und Zorn in ihr. Einen Teil davon habe ich ihr wohl in den letzten Wochen ihres Lebens abgenommen. Das Gehen fiel ihr leichter. Ich habe es gerne und in Liebe getan. Doch es wird nun Zeit, dass ich es ihr wieder zurück gebe. Es gehört nicht zu mir. Verziehen? Schon so lange. Vergeben? Ja.

5.4.12

Lieber Günter Grass, wenn es nur um die Inhalte und nicht um die eigenen Befindlichkeiten gehen würde, warum nutzt Du dann nicht jetzt, genau jetzt, wo Du so viel Presse und öffentliche Aufmerksamkeiten hast, diese Möglichkeiten um über nichts, aber auch gar nichts anderes als über die Inhalte zu reden? Oder geht es auch Dir doch nur um Deine Person und Deine eigenen inneren Schatten und nicht um sie und ihn, um mich und Sie und Ihnen und uns? Das, genau das macht mich traurig und Dich unglaubwürdig.

Was ein Bohei um diesen Text von Günter Grass. Dazu gibt es jetzt genug Diskussionen - wer möchte, kann sich da und dort ja einklinken. Das Einzige, was mir persönlich durch den Kopp geht: Ich lebe ja nun auch in diesem Land und ich hatte bisher kein Problem damit, klar und deutlich meine Meinung zur jeweiligen Politik der israelischen Regierung zu sagen. Leise, laut, öffentlich, privat, redend und schreibend. Wie hat der G.G. es geschafft, dies nicht meinen können zu dürfen? Irgendwie sitze ich da wohl auf der Leitung.
Was dieses, mein Land, immer noch auszeichnet: Ich kann denken und tun und reden und schreiben, ohne dass mein Leben sofort mit dem Tod bedroht ist. Ja, es hat Nachteile, wenn meine Meinung nicht die gängige ist - die Preise dafür sind bekannt. Allerdings schwanken sie nicht willkürlich, sondern sind recht überschaubar. Vielleicht bekommt man dann keinen Nobelpreis, vielleicht findet man keine Verlage, vielleicht wird man dann in den Medien zerrissen. Trotzdem kann ich sagen/schreiben, was meine Wahrheiten sind. Es dann zu tun, nennt man Zivilcourage. Über den Mangel daran sagt das Gedicht, unabhängig vom politischen Inhalt, eine ganze Menge aus.