6.5.17

Was ich bis heute nicht verstehe, ist diese Scham. Wie kann man sich schämen, weil man arm ist?

Du bist arm, weil du deinen Job verloren hast, die Mieten zu hoch sind, die Rente zu klein, Hartz IV eine Verarschung ist und hinten und vorne nicht reicht, Medikamente zu teuer sind und ähnliche Sachen. Kannste nichts für, musst du dich nicht schämen.

Oder, du bist arm, weil du suchtkrank bist. Kannste nicht alleine ändern. Musst du dich nicht schämen.

Oder du bist arm, weil du psychisch und/oder physisch krank. Hättest du vielleicht in deiner Vergangenheit irgendwas dran ändern können. Jetzt ist es, wie es ist. Kannste alleine nicht ändern. Musst du dich nicht schämen.

Oder du bist faul und unzuverlässig, träge und antriebslos. Lässt andere für dich sorgen. Kannste ändern. Oder dazu stehen. Schämen passt da nicht hin und ist, wenn überhaupt nur eine Mitleid heischende Lüge.

Oder du hast Entscheidungen getroffen, zu Gunsten deiner Kinder oder andere Menschen, um die du dich kümmerst und denen du deine Zeit schenkst. Könntest du ändern, willst du aber nicht. Also, warum solltest du dich dafür schämen?

Gibt bestimmt noch tausendundeine Variante mehr. Was Scham mit all dem zu tun haben könnte? Nichts.

Ich war ziemlich oft in meinem Leben arm. Meine Entscheidung, jedes Mal, weil meine Prioritäten in diesen Zeiten einfach andere waren. Ich habe das immer offen kommuniziert. Passiert ist da gar nichts Schlimmes. Im Gegenteil. Einen Anflug von Scham hatte ich höchstens in den Momenten, wenn ich für eine Arbeit, die mir sowohl Spaß als auch tiefe Befriedigung verschaffte, ein Schweinegeld bekommen habe. Huschte aber immer sehr schnell vorbei, diese Scham. Habe ich versucht nicht aufzufallen? Nein, ganz im Gegenteil.

Scham hat in diesem ganzen Kontext nichts, aber auch gar nichts zu suchen.

Und, bevor das Argument in die Runde torkelt: Mangelnde Eigenverantwortung und daraus abzuleitende, gar einzufordernde Scham passen nicht zusammen. Sind zwei völlig verschiedene Baustellen.


*Das ist übrigens keine Kritik an den Menschen, die sich ihrer Armut schämen. Ich weiß um die Mechanismen von Scham, wie sie angelegt sind, wo sie andocken und welche Funktion das Schamgefühl sowohl in der eigenen Psyche als auch gesellschaftlich hat. Ich wollte ermutigen. Fühlt euch ermutigt!

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