Jedes Jahr, immer wieder, immer noch. Ich könnte es auch jetzt
nicht anders formulieren. Und ich bin mir so sicher, dass er heute an unserer
Seite wäre, um sich gegen die alten und neuen Rechten, mit all dem was er ist
und kann, einzubringen.
Hallo Opa!
Heute wäre dein Geburtstag und wie jedes Jahr an diesem Tag
spukst du vermehrt durch meinen Kopf und mein Gemüt. Ich vermisse dich so sehr,
auch wenn du oft der Quell meines Leidens und meines Zorns warst. Du warst ein
solch elendiger Patriarch und hast deinen „Weiber“haushalt mit strenger Hand
geführt. Nur mir gegenüber warst du immer freundlich zugewandt und so wurde ich
das Mädchen mit der weißen Fahne im Haushalt und immer vorgeschickt, wenn deine
Töchter etwas von dir wollten.

Du warst derjenige, der mir Lesen und Schreiben beibrachte,
denn als alter Gewerkschaftler warst du der festen Überzeugung, dass Bildung
die Grundlage für jede Veränderung sei. Du hast Bücher über Bücher angeschleppt
und mir damit so viele neue Welten eröffnet.
Du hast mir vom Krieg erzählt und von der Nazidiktatur.
Schonungslos in deiner bildgewaltigen Offenheit. Es war dir egal, dass ich da
manchmal in meiner kindlichen Seele überfordert war und für und um dich und all
die anderen Menschen nächtelang weinte.
Du warst derjenige, der immer am Radio und dann später im
Fernsehen Nachrichten hörte und sie mir geduldig erklärt hat. Du warst
derjenige und einzige, der sich freute und verstand, als ich gegen jede
Familientradition Abitur machte und studierte. Du warst derjenige, der meinen
Mann willkommen hieß und ihm klar machte, dass dich persönlich Nationalitäten
und Herkunft einen Scheiß interessierten, wenn da nur ein ganzer Kerl endlich
seiner Enkelin, zu ihrer Sicherheit, ein paar Zügeln anlegen würde. Ihr zwei
Machos habt euch prima verstanden.
Du warst derjenige, der meinen Sohn so sehr liebte und
tatsächlich seinen Hintern bewegte und so oft bei uns war wegen ihm. Du warst
derjenige, der mich immer ermutigte und erdete, wenn ich vor Zorn glühte wegen
all der Ungerechtigkeiten in der Welt und der mich stärkte, als ich immer
weiter und weiter in diese Welt hinausging und sie mir per Trampen und
Gelegenheitsjobs eroberte.
Du warst derjenige, der immer ein Ohr für mich hatte und an
dessen Tisch ich immer freundliches Verständnis und Speisen aus meiner Kindheit
vorfand. Du warst allerdings auch derjenige, der meinen Vater vor mir
verschwieg, meinen Bruder ablehnte und mich nach dem Tod deiner Frau in die
graue Welt der Pflegeeltern schickte. Wir haben das später geklärt und nichts
blieb ungesagt vor deinem Tod.
Du fehlst mir so sehr und das tragende Bild heute in meinem
Kopf ist die Fahrt zwischen unserem freien Schrebergarten und dem so weit
entfernten Zuhause auf deinem kleinen Moped. Laut singend – dir war so gar
nichts peinlich, niemals und nirgendwo - hieltst du mich kleinen Fratz dabei
fest vor dir auf dem Sitz und zeigtest mir deine Stadt mit all ihren schönen
und schauerlichen Geschichten.
Ich habe so viel gelernt von dir, im Guten, wie im
Schlechten und ich bin unendlich dankbar dafür, dass du mich eine Weile in
meinem Leben begleitet hast. Du fehlst, verdammt, du fehlst.